Kommunikationsprobleme zwischen Autor und Rezensent (Kritiker, Meinungsbildender)



 "Ich möchte gerne Deine Meinung zu diesem Kapitel meines Buches wissen ..." 

Das war die Bitte eines Freundes, welcher gerade dabei ist, einen neuen Roman zu schreiben.
Wir kommunizieren meist über Whatsapp oder im Idealfall treffen wir uns im Cafe. Dieses Mal folgte der Whatsapp-Unterhaltung ein reales Treffen. Scheinbar habe ich es auch dort nicht geschafft, ihm klar zumachen, dass ich ihn mit meiner (wohlwollenden) Kritik nicht angreifen, sondern helfen wollte.

 Einige Zeit später las ich Folgenes in seinem Blog:

 Neulich schickte ich Biggi das neue Kapitel meines Buches, weil ich von ihr ein ungefiltertes konstruktives Feedback bekomme, dem ich vertrauen kann. Obwohl ich ziemlich zufrieden war mit der Dynamik des Plots und dem Auflösen der Ausgangssituation bekam ich am nächsten Tag einen kleinen Ansturm an Messages. Ihre Beurteilung hat mich gleichzeitig amüsiert und schockiert zugleich: Ich hätte es toll geschrieben, aber in Anbetracht meines bisherigen Materials wäre es komplett unbrauchbar, weil es völlig aus dem Kontext gehoben wäre und dem Leser als unglaubhaft vorkommen würde. Wie konnte das passieren? Ganz einfach: Das neue Buch spielt in der gleichen Welt und Zeit meines Krimis "Anonym" und einige Charaktere daraus kommen auch im neuen Buch vor. In dieser Welt lasse ich das Übernatürliche zu - sprich in meiner Stadt Norden gibt es durchaus Vampire, Hexen, Sukkubi und ähnliches. Ergo muss man damit rechnen, diese Wesen und Kreaturen auch in "Shabir wird 30" zu entdecken. Nur weil sie in den ersten 600 Seiten nicht vorkamen, heißt das nicht, dass sie nicht existieren. ;-) Aber die Hauptfrage ist dadurch: Ist das neue Buch dadurch zwingend ein Fantasyroman? Darf man die Genres überhaupt vermischen? Und muss man das vorne auf dem Cover angeben? Oder reicht eine Erwähnung im Vorwort (falls vorhanden)? Fühlt sich ein Leser wirklich "verarscht", wenn das Buch realistisch anfängt und erst nach der Hälfte fantastische Elemente auftauchen? Bedeutet das nicht im Umkehrschluss, dass ich den Leser nicht mehr überraschen darf? Sind Überraschungen schlecht? Sogar unerwünscht? Schreibe ich beim Krimi dann direkt auf der ersten Seite, wer der Mörder ist und schwafle die nächsten vierhundert Seiten drumherum? Bei https:\\de.Wikipedia.org wird die Definition vom Roman so zusammengefasst: "Der Roman ist eine literarische Gattung, und zwar die Langform der schriftlichen Erzählung." (...) "Bis heute ist es schwierig, den Roman eindeutig zu definieren, da er zum einen in der antiken Diskussion über literarische Formen nicht erwähnt wird und zum anderen viele unterschiedliche Einflüsse auf die Romanproduktion einwirkten und bis heute weiter einwirken. Daraus resultieren zwei für die Definition des Romans wichtige Grundannahmen. In der Romantheorie wird der Roman erstens als Synthese verschiedener Gattungen aufgefasst, da es außer dem Prosakriterium kaum formale Vorgaben gibt und daher andere ästhetische Muster leicht zu integrieren sind. Und zweitens ist der Roman aufgrund seiner Offenheit gegenüber anderen Formen und Genres einem stetigen Wandel unterworfen, der bis in die Gegenwart andauert und noch nicht abgeschlossen ist." (...) "Das Kriterium der Fiktionalität unterscheidet den Roman von faktualen Erzählungen – etwa denen der Geschichtsschreibung –, die ein getreues Abbild eines Geschehens darbieten wollen. Oft weist schon das Wort Roman auf dem Bucheinband oder Titelblatt einen Roman als künstlerisches und damit fiktionales Werk aus." Ich finde diese Eingrenzung völlig ausreichend. Weitere Einschränkungen brauche und will ich nicht für mein kreatives Dasein. Der letzte Abschnitt ist aber für mich noch einmal wesentlich entscheidend:
Ein Roman ist fiktiv - also ausgedacht. Wenn ich mir schon die ganze Story aus den Fingern sauge, kann ich dann nicht fiktive (ausgedachte) Elemente hinzufügen, sofern sie meine Geschichte bereichern?

 Wo steht geschrieben, dass ich das nicht darf. Ich sehe keinen Unterschied, ob ich mir einen menschlichen Charakter ausdenke oder einen Vampirischen. Und wenn ich meine, für meinen Spannungsbogen einen Geist zu benötigen, wird der auch stumpf eingebaut. ;-)

 Falls Ihr von Lektoren, Freunden und Familie auch schon einmal in dieser Weise angegriffen wurdet und ihr pures Unverständnis geerntet habt: Freut Euch, dass ihr provoziert!

Dass ihr eingeschränkte Sichtweisen aufbrecht! Arbeitet gegen das elitäte Schubladendenken, das uns eingeredet wird, dass es richtig wäre! Sprengt die Ketten und seid kreativ. Erschafft etwas Neues. Macht euer eigenes Ding draus. Verliert nicht den Mut. Denn die Kritisierer haben ihn nicht! ;-)

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 Ich habe lange darüber nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass es vielleicht doch nochmal Redebedarf gibt.
Zumindest von meiner Seite. Zunächst schrieb ich ihm aber einen Kommentar unter sein Statement.

 Moin mein Lieber, ich denke, wir beide haben einfach mal wieder ein Kommunikationsproblem. Siehe hierzu auch:

Das 4-Ohren Modell oder Kommunikationsquadrat
 https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-kommunikationsquadrat

 ICH wollte DICH in keinster Weise angreifen. Es tut mir leid, wenn du das so aufgefasst hast. Jeder Autor kann schreiben, was er möchte. Was mir zu deinem Kapitel auffiel, habe ich dir, in diesem Fall gelesen mit meinem "Sachohr", geschrieben.
 Heißt, der Fantasyleser würde sich darüber ärgern, wenn erst auf Seite 400 die für ihn interessanten Figuren bzw. Ereignisse auftauchen. Er erwartet einfach mehr. Wenn dein Buch aber nicht als Fantasyliteratur zu verstehen sein soll, dann ärgert sich der Leser, welcher solche Elemente z. B. überhaupt nicht mag und in dem Moment das Buch zur Seite legt, weil er sich verarscht vorkommt. Das ist nur meine Meinung, von dem was ich gelernt habe und ich es als Leser auch empfinden würde.
Wenn jemand dein Buch "Anonym" nicht gelesen hat, weiß derjenige nicht, was ihn bei deinem neuen Buch erwartet und kauft es im guten Glauben, eine interessante, moderne Geschichte zu lesen, die ihn unterhält und ihn anspricht. Jemand, der Fantasy und Mystik mag, wird vielleicht sogar angenehm überrascht sein. Genau so, wie du es dir ausgedacht hast. Wow! Das ist ja genial! Toller Autor.
Was würde jemand denken, der dein Buch bisher sehr gut fand und dann durch den Einsatz der neuen Elemente sehr überrascht ist. Vielleicht gefällt es ihm und er schmunzelt ob dieser interessanten Neuerung. Oder aber - er wendet sich ab und denkt sich, hmmm - da ist dem Autor wohl nichts mehr eingefallen, womit er dem Roman noch mehr Tiefe und Esprit geben könnte. Der glaubt doch nicht, dass ich mir diesen Scheiss nochmal kaufe.
NUR ein BEISPIEL. SO könnte es sein. Beides kann eintreffen. Ich habe dir damit nur verdeutlichen wollen, dass es ein Publikum für Dieses oder für Jenes gibt. Wenn aber Fantasyelemente drin sein sollen, dann nicht erst auf Seite 4983 (Beispiel), sondern recht früh. Ganz liebe Grüße, Biggi

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 Was nun?
Des Menschen größtes Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstände soviel als möglich bestimmt und sich so wenig als möglich von ihnen bestimmen läßt. Johann Wolfgang von Goethe
Menschen, die sich unverstanden fühlen, haben meistens keinen Versuch unternommen, andere Menschen zu verstehen John Steinbeck

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