Der Tote im Leuchtturm
Der Tote im Leuchtturm
Ich bin gerade erst auf der Insel
angekommen, aber mein allererster Weg führt mich immer zum
Leuchtturm am Wangerooger Bahnhof.
Groß und stolz steht er da. Leuchtet
bei jedem Wetter in seinem rot-weissen Mantel, ohne dass er seine
Leuchtfeuer überhaupt in Betrieb nehmen muss. Er fällt einfach ins
Auge. Ob man will oder nicht. Seine Anziehungskraft auf alle
Menschen, die Wangerooge bereisen, ist unbesttritten.
Aber nicht nur auf die Touristen übt
er seinen Reiz aus. Selbst die Einheimischen der Insel finden ihn
immer noch faszinierend und schön, obwohl sie seinen Anblick gewohnt
sind.
Einer ist in ganz besonderem Maße
begeistert von ihm. Der alte Leuchtturmwärter Jan Gerdes. Na ja, alt
ist er noch nicht so richtig. Aber schon sehr lange ist das sein
Arbeitsgebiet. Hegt und pflegt er den Turm.
Meist sitzt er in dem Kassenhäuschen
innerhalb des Eingangsbereiches und gibt die Tickets für´s Museum
oder die Leuchtturmbesteigung aus.
Denn seine einstige, äußerst wichtige
Funktion, das Leuchtfeuer nachts hinaus aufs Meer zu senden, damit
die Schiffe in der Dunkelheit ihren Weg finden, ist lange schon
vorbei. Doch man reisst einen Leuchtturm nicht einfach so ab. Es gibt
viele Menschen, die das schade finden würden. Und so wird sein
Erhalt u.a. durch die Eintrittsgelder gesichert, die Jan Gerdes Tag
für Tag einnimmt.
Heute freue ich mich darüber, dass
tatsächlich die Sonne wieder einmal hell und freundlich vom Himmel
lacht und ich halte ihr mein Gesicht entgegen. Geniesse die Wärme,
die von ihr ausgeht, obwohl der wahre Frühling immer noch auf sich
warten lässt. Leichten Schrittes laufe ich beschwingt auf den Riesen
zu.
Herrlich so ein Tag! Und das direkt bei
meiner Ankunft. Ich sehe das als gutes Zeichen. Dieser Urlaub könnte
tatsächlich einer werden. Ohne, dass ich wieder einmal – wie schon
oft in meiner Auszeit geschehen - zurück nach Aurich beordert
werde, weil natürlich keine andere Kommissarin meine Arbeit
übernehmen kann! Sarkasmus aus. Ja, verdammt - es gibt Tage, das
verfluche ich meinen Beruf!
Ich hoffe einfach, dass es diesmal
anders wird. Ganz fest dran glauben, dann wird’s schon, hat mein
Vater immer zu mir gesagt. Seine Weisheiten habe ich oft im Ohr, wenn
ich mal wieder an einem Punkt bin, an dem ich nicht mehr weiterkomme.
Er ist schon seit Jahren in Pension . Doch die Leidenschaft für
seinen Beruf hat er an mich weitergegeben. Für mich ist es
genausowenig nur ein Job, wie es das für ihn gewesen war.
Aber mit dem Glauben ist das so eine
Sache, wenn man sich ausgerechnet für einen Beruf entschieden hat,
der einem Einiges abverlangt, wenn man Diebe, Mörder oder
Psychopathen vor sich sitzen hat. Da braucht es ein starkes
Nervenkostüm und Zweifel zu haben, ist für uns im
Kriminalistenalltag völlig normal. Wieder eine der Weisheiten meines
Vaters, die ich aus vollem Herzen nur dick
unterstreichen kann.
Wir müssen alles beweisen. Hieb- und
stichfest. Geglaubt wird in der Kirche! Das stammt ausnahmsweise
nicht von meinem alten Herrn, sondern von meinem Chef, Hauptkommissar
Klaas Satori. Bis heute habe ich übrigens noch nicht herausgefunden,
wie man etwas hieb- und stichfest beweist. Ich werde bei Gelegenheit
einmal danach googeln.
Während ich in meinen Gedanken doch
wieder bei meiner Arbeit angekommen bin, lenken meine Füsse ihre
Schritte automatisch weiter in Richtung langer Hans oder wie auch
immer dieser Leuchtturm heissen mag. Auch das sollte ich mal
googeln oder einfach bei Herrn Gerdes erfragen. Oder einen Flyer mitnehmen, die dort
ausliegen und darauf hoffen, Genaueres zu erfahren.
Ah, ich kann jetzt schon den Rasen und
die alte Dampflok sehen. Und hören kann ich auch etwas. Lärm!
Als wenn eine ganze Schule beschlossen
hätte, heute ihren Tagesausflug zu machen. Sie hören sich an wie
eine Hundertschaft, doch als ich um die Hecke herum nach rechts gehe,
sehe ich, dass dort nur etwa sechs pubertäre Jugendliche mit ihren
Handys in der Hand herumstehen und laut lamentieren und lachen. Mich
interessiert immer, was die Kids von heute tun, wenn sie tagsüber
unterwegs sind. Ganz oft begegnen sie einem, ohne wirklich etwas von
der Umgebung wahrzunehmen. Ihr Blick ist starr auf ihr Schlaufon
gerichtet. Wenn sie nicht aufpassen, muss ich es eben umsomehr tun.
Aus Eigennutz. Sonst nimmt das unabsichtliche, aber auch
unvermeidliche Anrempeln nie ein Ende.
Auf der Fähre vorhin hatte ich ein
interessantes Gespräch mit einer netten Dame, der es genau so
aufgefallen ist wie mir, dass die Jugend „heutzutage“ vermutlich
nicht mehr richtig in der Lage ist, ein ganz normales Gespräch zu
führen. Da wird gewottssäppt und gesimst, Gesichtsbüchernachrichten
ausgetauscht oder man zwitschert sich einen. Nein, damit ist
keineswegs gemeint, dass man mit seinen Freunden in eine Kneipe geht
und sich einen antrinkt. Heutzutage hat man gefälligst einen
Twitter-Account. Ganz besonders Taffe leisten sich auch noch
Instagram. Das ist keine Tütensuppe, sondern nur eine weitere Möglichkeit zur
Kommunikation per Handy oder PC - auf jeden Fall via Internet mit
seinen Freunden. Kurze und knackige Nachrichten oder Fotos, die
schnell ganz viele Menschen erreichen sollen.
Als sie mich bemerken, wird die
Geräuschkulisse um einige Fon leiser. Mein Blick fällt auf ein Handy, welches einem der Jungen aus der Hand und direkt vor meine Füße geschlittert ist. Bevor ich mich bücken und es aufheben kann, hat er es schon in der Hand. In der kurzen Zeit, als ich auf das Bild schauen konnte, meine ich, einen Mann am Boden liegend, darauf erkannt zu haben. Was die Kids sich heutzutage alles so ansehen... Es ist plötzlich sehr still. Doch nur solange, bis ich an
ihnen vorbeigeeilt bin. Dann setzt die Kakophonie der verschiedensten
Laute, welche die Jugendlichen und auch ihre Handys von sich geben,
sofort wieder ein. Ich bin sekündlich wieder uninteressant geworden.
Mir soll es recht sein. Dann habe ich
im Leuchtturm wenigstens Ruhe. Ich möchte mir gar nicht vorstellen,
wie sich das für mich anhören würde, wenn sie alle zusammen die
Treppen hinauf oder hinunterrennen.
Einmal tief durchatmen und ich bin im
übersichtlichen Eingangsbereich angekommen. Ich schliesse die Türe
hinter mir und möchte mir ein Ticket kaufen, damit ich den
Leuchtturm besteigen darf. Aber Jan Gerdes sitzt nicht in seinem
kleinen Kabuff. Wo mag er wohl sein? Toilette? Eine rauchen? Ich
weiss, dass er raucht. Das passt zu ihm. In
meiner Phantasie ist er leidenschatlicher Pfeifenraucher. Allerdings
habe ich ihn noch nie Pfeife rauchen sehen. Wäre aber schön. Mir
gefällt die Vorstellung eines alten Seebären, der schon
viel erlebt hat und abends gemütlich in seinem Ohrensessel zuhause
mit einem Pfeifchen entspannt.
Habe ich mit meiner kleinen Nichte
vielleicht zu oft die Sendung mit der Maus gesehent? Meldet sich da mein inneres Kind? Käpt´n Blaubär
mag ja das Blaue vom Himmel herablügen, aber nicht ein Jan Gerdes!
Es würde mir einfach nur gut in den Kram passen. Ich muss innerlich
schmunzeln. Wenn er wüsste, was ich mir so zurechtspinne. Aber
Himmel, ich habe Urlaub! Da darf ich auch mal alberne Gedanken haben!
Na gut, hier ist er jedenfalls nicht zu
sehen. Was mache ich jetzt? Auf ihn warten? Ich schaue auf die Uhr
und sehe, dass eigentlich schon längst geschlossen hätte sein
müssen. Aber die Tür war doch gerade offen gewesen. Komisch.
Vielleicht ist er oben und schaut nach
dem Rechten. Was auch immer das für einen Leuchturmwärter bedeuten
mag.
Ich könnte ja jetzt einfach nach oben
gehen und ihm das Geld für die Besteigung später geben.
Vermutlich treffe ich ihn eh unterwegs.
Meine Entscheidung ist gefallen. Ich
nehme die ersten 30 Stufen in Angriff. Puh, das geht ganz schön in
die Beine! Aber ok, das wusste ich ja schon von meinen früheren
Ausflügen aufs oberste Deck des Turmes. Und bis heute habe ich noch
jedesmal gedacht, dass ich es vielleicht nicht schaffen würde.
Mein künstliches Kniegelenk, welches ich vor einem Jahr erhalten
habe, könnte es mir dieses Jahr aber tatsächlich verdammt schwer
machen, mein Ziel wieder zu erreichen.
Ich will da jetzt hoch und nicht
darüber nachdenken, ob ich es kann oder nicht. Also
weiter...
Die nächsten einundzwanzig Stufen
erklimme ich auch noch ganz locker, ohne dass ich Atemprobleme
bekomme. Es sind nur die Knie, die mir zu schaffen machen, ansonsten
ist meine Kondition top. Etwas über ein Drittel habe ich schon
bewältigt. Ich gönne mir eine winzige Pause und laufe dann langsam,
aber stetig weiter bis zur nächsten kleinen Plattform.
Wenn ich jetzt durch die kleinen
Fenster nach draussen schaue, kann ich schon die Nordsee sehen.
Was für ein toller Anblick! Davor die
prächtige Dünenlandschaft, mit Strandhafer hier und da und dann der
lange weite Strand. Es fühlt sich gut an, dieses Bild in mir
aufzunehmen. Ich gestehe mir wieder keine lange Pause zu und nehme
die nächsten Treppenstufen in Angriff, die sich spiralförmig weiter
nach oben schlängeln.
Dann der allerletzte Absatz. Jetzt ist
es im wahrsten Sinne des Wortes nur noch ein Katzensprung. bis ich
endlich auf dem Oberdeck an der Brüstung stehen und mir den Wind um
die Ohren wehen lassen kann. Noch eine kleine Verschnaufspause –
und hinauf ans Ziel!
Mir fällt jetzt erst auf, dass Jan
Gerdes immer noch nicht aufgetaucht ist. Also mir entgegenkommend.
Hmm... ob er wirklich da oben auf der Plattform ist? Warum eigentlich
nicht? Auch er hat ein Recht auf Genuß. Und quasi schon Feierabend.
Nur weil ich ihn mittlerweile gut kenne, durch meine unzähligen
Besuche auf dem Turm, bin ich überhaupt auf die Idee gekommen, ihn
zu fragen, ob ich vielleicht noch eben kurz nach oben darf, bevor er
den Leuchtturm für heute verschliesst.
Jetzt stehe ich vor der offenen Tür,
die auf die letzte und höchste Plattform führt...
Eine Windböe erfasst den nur locker
auf meinem Kopf sitzenden weissen Hut und ich spüre, wie er sich
selbstständig macht und wegfliegen möchte. In allerletzter Sekunde
erhasche ich ihn noch und halte ihn fest in meiner Hand. Nochmal gut
gegangen. Er ist ziemlich teuer gewesen und ich würde es wirklich
bedauern, wenn er verloren ginge. Mit dem Hut in der Hand betrete ich
die Plattform und halte Ausschau nach dem Leuchtturmwärter. Doch
zunächst überwältigt mich - wie jedesmal - die Aussicht vom
Leuchtturm über die Insel! Ein wahres „Wow-Erlebnis“! Genauso
wie beim ersten Mal, als ich hier oben stand und nicht fassen konnte,
welch´ wunderschöne Landschaft da unten vor bzw. unter mir lag. Ich
gehe langsam zur Brüstung, um diesen Anblick
ausgiebig zu geniessen und vergesse für diesen Moment, dass ich eben
noch Jan Gerdes suchen wollte.
In diesem Moment höre ich Geräusche,
welches nicht zu meinem selbstvergessen Augenblick passen wollen.
Stöhnen oder Seufzen. Es könnte auch ein Fluch dabei gewesen sein.
Denn das Wort „verdammt“ habe ich klar und deutlich vernommen.
Ich löse mich nur ungern von meinem
Platz an der Brüstung, aber meine kriminalistische Neugier ist
geweckt.
Nachdem ich zur Westseite der
kreisrunden Brüstung gelaufen bin, sehe ich es. Auf dem Boden liegt
ein Mann. Aufgrund seiner Position und seiner starr aufgerissenen
Augen befürchte ich das Schlimmste. Jan Gerdes kniet über ihm und
soweit ich das beurteilen kann, liegen seine Hände um des Hals des
Toten.
Er dreht seinen Kopf in meine Richtung,
erkennt mich und spricht aufgeregt auf mich ein: „Sie kommen genau
richtig, Frau Kommissarin!“
„Um Sie zu verhaften, meinen Sie
wohl, Herr Gerdes“, erwidere ich und suche in meiner großen
Handtasche nach Kabelbindern, die ich eigentlich immer dabei habe.
Man weiss ja nie...
„Ich habe nichts getan, wofür Sie
mich verhaften müssten, Frau Kommissarin. Der Mann ist einfach so
umgefallen und ich habe nur gerpüft, ob ich an seiner Halsschlagader
noch einen Puls fühlen kann.“
Gerdes schaut mich aus einer Mischung
zwischen Empörung, Hilflosigkeit und Verzweiflung an, so dass ich
beinahe geneigt bin, ihm zu glauben. Aber da haben wir es wieder.
Glauben musste ich gar nichts. So wie die Dinge hier lagen, konnte es
durchaus ein Mord gewesen sein. Aus welchem Grund auch immer. Ein
Motiv lässt sich ganz bestimmt finden, wenn man Herrn Gerdes einmal
genauer unter die Lupe nahm.
Doch zunächst brauchen wir hier einen
Arzt, der sich den Toten ansehen muss. Die genaue Todesursache wird
dann die Pathologie herausfinden. Die Kabelbinder finde ich nicht,
aber mein Handy liegt schon in meiner Hand, bereit für den Anruf
beim Arzt.
Für den Fall, dass ich mal einen
benötige, habe ich mir irgendwann aus dem örtlichen Telefonbuch
einen Allgemeinmediziner herausgesucht. Ich suche unter meinen
Kontaktadressen nach seinem Namen, finde ihn und drücke die
Wahltaste.
Jan Gerdes hat sich mittlerweile
erhoben und sich an die Brüstung gelehnt. In gebührendem Abstand
beobachte ich ihn, während ich darauf warte, dass jemand abnimmt.
Endlich meldet sich eine verschlafene
Stimme. „Ja?“, fragt sie. „Wer in Dreiteufelsnamen stört
meinen heiligen Mittagsschlaf?“
Mittag? Ich schaue flüchtig auf meine
Armbanduhr. Es ist kurz nach Sechs. Der will mich wohl veräppeln.
Später erfahre ich, dass der Doktor meist von morgens Acht bis
abends um 18 Uhr durcharbeitet und sich danach immer für eine
Stunde aufs Ohr legt. Doch das kann ich zu diesem Zeitpunkt ja nicht
wissen und melde ihm, dass sich auf dem Leuchtturm vermutlich ein
Toter befindet. Er müsse seinen Mittagsschlaf dringend unterbrechen
und hochkommen.
„Oh hah, ein Toter im Leuchtturm?!
Das haben wir hier nicht allzu oft. Eigentlich ist sowas noch nic
vorgekommen, wenn ich es mir recht überlege. Und was heisst
vermutlich? Ist er nun tot oder nicht? Geben Sie mir doch mal den
Jan. Der ist doch bei Ihnen, oder?“
Es steht mir nicht zu, einen Menschen
für tot zu erklären. Auch wenn es offensichtlich ist. Das darf nur
ein Arzt. Und es fehlte gerade noch, dass ich ihn mit dem
vermutlichen Mörder sprechen lasse.
„Tut mir leid“, antworte ich
dementsprechend kühl. „Den können Sie im Moment nicht sprechen.
Packen Sie einfach ihre Tasche und kommen hierher.“
Ob Urlaub oder nicht - in solchen
Situationen war ich sofort ganz Profi.
„Wie reden Sie denn mit mir“,
knurrt es aus dem Hörer. „Ich darf wohl bitten...“
Der will jetzt mit mir über einen
angenehmen Tonfall diskutieren, denke ich und hier liegt ein Toter.
Ich beschließe, mich nicht darauf einzulassen.
„Hören Sie, mein Name ist Clara
Janssen und ich bin Polizeikommissarin. Bewegen Sie endlich ihren
Hintern!“ Dann lege ich einfach auf.
Das war zwar nicht besonders höflich,
aber jetzt ist Eile angesagt. Je schneller man herausfindet, was den
armen Teufel hat sterben lassen, desto schneller war die Sache vom
Tisch.
„Und?“, fragt Gerdes. „Kommt
Hinrichs? Oder legt er sich nochmal hin? Normalerweise kriegen den
nach seiner Sprechstunde keine zehn Pferde mehr aus dem Haus. Da
könnte die Welt untergehen.“
„Er wird schon kommen“, seufze ich
gereizt und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass mich das
kurze Telefonat geärgert hat. „Das hier ist schließlich ein
Notfall.“
Jan Gerdes holt ein Päckchen Tabak aus
der Tasche und fängt an, sich eine Zigarette zu drehen. Ich könnte
jetzt auch eine gebrauchen, aber bei Gott, ich hatte ewig lange dafür
gebraucht, davon loszukommen und fange nie wieder damit an. Das habe
ich mir damals geschworen, nachdem ich den Kampf gegen das Nikotin
endlich gewonnen hatte.
Irgendwie traue ich Gerdes jetzt doch
keinen Mord mehr zu. Dieser Mann tut doch keiner Fliege was zu Leide,
denke ich. Er ist die Ruhe selbst. Ganz in seiner Mitte. Ich bin sehr
geneigt, seiner Version jetzt doch Glauben zu schenken.
Doch wortlos beuge ich mich zu dem
Toten hinunter und begutachtete seinen Hals. Da ist auf den ersten
Blick nichts zu erkennen. Keine Würgemale und auch keine kleinen
roten Pünktchen in seinen Augen, die darauf schließen lassen
könnten, dass er erwürgt worden ist.
Ich bin mir jetzt sicher, dass ich das,
was ich vorhin gesehen hatte, tatsächlich falsch interpetiert habe.
Ich prüfe, ob sich wenigstens einige
Einmal-Handschuhe in meiner Tasche befinden und erwische
glücklicherweise ein Paar.
Als ich sie übergestreift habe, fasse
ich mit spitzen Fingern in seine Jackentasche. Es wäre von Vorteil
zumindest schon mal die Identität des Toten feststellen zu können.
Ich ziehe etwas heraus. Keine Brieftasche, keinen Ausweis, aber einen
Brief. Vielleicht steht dort sein Name. In so einem Fall achtet man
nicht mehr auf evtl. Postgeheimnisse. Entschlossen falte ich ihn
auseinander und fange an zu lesen:
Liebste Heide,
du wirst traurig sein und weinen,
wenn du erfährst, dass ich nicht mehr bin. Bitte tu das nicht. Wenn
du diesen Brief zuende gelesen hast, wirst du mich verstehen. Ich
hoffe zumindest auf dein Verständnis.
Vor kurzem war ich bei Doktor
Hinrichs und er hat mir eine schlimme Diagnose gestellt.
Heide, mein Engel – ich habe
Alzheimer.
Wir haben oft darüber gesprochen,
wie es wäre, wenn einer von uns diese Krankheit bekommen würde. Wir
konnten uns nicht vorstellen, wie wir damit leben sollen. Wie
entwürdigend unser Leben dann eines Tages vielleicht zu Ende gehen
würde. Sicher, für denjenigen, den es betrifft, ist es halb so
wild, haben wir uns gesagt. Aber der, der übrig bleibt, sieht mit
an, wie der andere zugrunde geht. Meine Liebste, verzeih. Das möchte
ich dir nicht nicht zumuten.
Mein Weg hat mich heute zum alten
Leuchtturm geführt, weil ich dem ein Ende machen möchte.
Nicht der eleganteste Weg, ich weiß,
und mag sein, dass du mich – in der Tat zu Recht - für feige
hältst...
Ich halte für
einen Moment inne und versuche zu verstehen, was ich da gerade
gelesen habe.
Wie sehr muss dieser Mann gelitten
haben, denke ich. Von der Diagnose bis zu dem einsamen Entschluss,
seinem Leben heute ein Ende zu setzen. Leicht wird ihm diese
Entscheidung bestimmt nicht gefallen sein. Wenn man bedenkt, wie
liebevoll dieser Brief formuliert ist und wie nah diese Heide und er
sich gestanden haben müssen. Er hat sein Vorhaben nicht ausführen
können, weil ihn der Tod schon vorher ereilt hat. War es nicht
vielleicht auch besser so? Wie wäre Heide mit seinem Suizid klar
gekommen, wenn er ihn ausgeführt hätte?
Ich schaue Jan Gerdes in die Augen und
denke, dass er es mir bestimmt schon ansehen kann, dass ich meinen
Gedanken von vorhin längst revidiert habe.
Eine Stimme unterbricht meine Gedanken
und ruft uns zu: „Hallo, wo sind Sie?!“
Doktor Hinrichs ist endlich
eingetroffen. Ich mache mich bemerkbar, indem ich mich erhebe und
einige Schritte auf ihn zugehe. „Wir sind hier, Doktor. Schön,
dass Sie so schnell kommen konnten.“ Versuche freundlich zu wirken.
Ihn meine Worte von vorhin vergessen zu lassen.
„Hej Uwe“, begrüßt Jan Gerdes ihn
und reicht ihm seine Pranke. Zum erstem Mal fällt mir auf, was für
riesige Hände dieser Mann hat.
„Moin Jan“, erwidert Uwe Hinrichs
den Gruß des Leuchtturmwärters. Dann wendet er sich zu mir.
„Und Sie sind also Kommissarin und
haben mich hierher beordert?“ Er ist ein attraktiver Mann mit
durchdringenden dunkelbraunen Augen, die mich jetzt ernst mustern.
Ich räuspere mich und habe das
Gefühl, mich bei ihm entschuldigen zu müssen. Finde jedoch nicht
die richtigen Worte. Es war ja auch nichts falsches daran gewesen,
ihn zum Leuchtturm zu bestellen, um die Leiche zu begutachten. Doch
der Satz, dass er seinen Hintern sofort hierher bewegen solle,
erschien mir jetzt doch sehr daneben und meiner absolut nicht würdig.
Sowas sagen Krimikommissare im
Fernsehen. Das müssen sie scheinbar auch so machen, um mehr Dramatik
in die Szene zu bringen.
Carla, Carla... du solltest wirklich
lernen, dich zu beherrschen, denke ich. Und jetzt
entschuldigst du dich sofort bei Doktor Hinrichs für deinen
ausfallenden Ton!
Nein, ich schaffe es nicht. Würde mir
komisch vorkommen. Erniedrigt. Aber bist du es nicht gewesen, die
sich ihm gegenüber würdelos verhalten hast? Also los jetzt, tu es,
sporne ich mich innerlich an.
Diese Augen... ! Ich kann mich nur
schwer von ihnen losreissen. Mittlerweile betrachten beide Männer
forschend mein Gesicht und warten auf eine Gestik, ein Zeichen oder
erklärende Worte von mir.
Anstatt sanft wie ein Lamm endlich die
Entschuldigung auszusprechen, die jetzt beiden gegenüber angebracht
gewesen wäre, wende ich mich schroff zur Seite, deute auf den Toten
und sage nur ganz knapp: „ Da liegt er.“
Am liebsten wäre ich weggerannt.
Abgetaucht. In ein Mauseloch gekrochen. Aber ich stehe hier wie ein
bedröppeltes, schwerverliebtes Schulmädchen. Um diesen Eindruck zu
verändern und mein Gesicht nicht gänzlich zu verlieren, versuche
ich mich jetzt betont lässig an die Brüstung des Leuchtturms zu
lehnen. Aus den Augenwinkeln bekomme ich mit, wie die beiden Männer
sich kopfschüttelnd ansehen und in meinem Kopf höre ich ihre
unausgesprochenen Worte: Die hat sie nicht mehr alle.
Dr. Hinrichs beschließt, sich dem
eigentlichen Zweck seines Kommens zuzuwenden und nimmt ein paar
Gummihandschuhe aus seiner Arzttasche, um den Toten zu untersuchen.
Ich beobachte ihn. Seine Bewegungen sind flüssig und seine Hände
wissen genau, was sie wo anfassen dürfen und müssen, um eine gute
Diagnose stellen zu können.
Es klingt makaber, aber ich stelle mir
gerade vor, was er damit wohl sonst noch alles anstellen könnte.
Carla, jetzt reichts!, rufe ich
mich wieder mal zur Ordnung. Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde.
Da unten liegt ein toter Mann auf dem Boden und du hast solche
Gedanken...
Gerdes beschließt,
noch eine Zigarette zu rauchen und fängt an zu drehen.
„Ich kenne ihn“, sagt Hinrichs. Jan
schaut zu ihm hinunter und meint: „ Jo, ich auch. Das ist Harry
Vogt. Ein begnadeter Schriftsteller, der schon für den
Purlitzerpreis nominiert wurde. Eigentlich müssten Sie ihn auch
kennen, Frau Janssen.“
Ich überlege nur kurz und mir fällt
bei dem Namen sofort sein letztes Buch ein. Die Wahrhaftigkeit der
Gene oder so ähnlich lautete der Titel.
„Kein Zweifel“, unterbricht Doktor
Hinrichs mich, bevor ich mich dazu äussern kann, dass auch mir der
Name des berühmten Schriftstellers nicht unbekannt ist.
„Herr Vogt erlag einem Herzinfarkt.
Es ist bekannt, dass er bereits zwei Infarkte hatte und nur durch
Stents noch am Leben teilnehmen konnte. Ausserdem war er noch vor
kurzem bei mir und ich musste ihm eine bittere Mitteilung machen.
Darüber darf ich allerdings aufgrund meiner Schweigepflicht nicht
sprechen.“
Ich flüstere leise, dass ich darüber
Bescheid wisse. Er hätte es in einem Brief geschrieben, den ich
vorhin gelesen habe.
„Soso“, missbilligend sieht er mich
an. Mehr sagt er nicht. Aber diese vier Buchstaben reichen, um mir
mein schlechtes Benehmen ihm gegenüber am Telefon wieder ins
Bewusstsein zu rufen.
Und dieses Mal überwinde ich mich,
springe über meinen Schatten und bitte ihn, mir meinen schroffen Ton
zu verzeihen, den ich vorhin ihm gegenüber angeschlagen habe.
Er erhebt sich langsam und als er vor
mir steht, kann ich nicht anders, als ihm auch noch meine Hand
hinzuhalten, damit er sie ergreift und mir damit Absolution erteilt.
Er spürt wohl, wie wichtig mir das
ist. Es dauert nur einige für mich quälend lange Sekunden, bis er
sie endlich ergreift und mich anlächelt.
„Gerade noch die Kurve gekriegt,
junge Frau, würde ich sagen. Aber aufgrund ihres Berufes und der
Situation kann ich dafür sogar Verständnis aufbringen. Also, an
seinem Tod ist tatsächlich nichts ungewöhnliches und wir können
den Bestatter rufen. Ist das OK für Sie?“
Ob ich will oder nicht, bevor ich
antworte, muss ich mich auch dringend bei Jan Gerdes entschuldigen,
dass ich ihm so eine Tat zugetraut habe. Sonst kann ich mich nie
wieder auf Wangerooge blicken lassen.
Ich bringe auch das schnell hinter mich
und antworte Hinrichs dann auf seine Frage.
„Da ich von eurem örtlichen
Bestatter keine Telefonnummer habe und Herr Vogt ja eines ganz
natürlichen Todes gestorben ist, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie
das übernehmen würden.“
Würde ich Hinrichs jemals wiedersehen,
wenn sich unsere Wege jetzt trennten? Das war für mich plötzlich zu
einer ganz wichtigen Frage geworden. Die konnte ich ihm aber nicht
einfach so stellen, ohne eingestehen zu müssen, dass ich mehr als
nur oberflächliches Interesse für ihn empfinde.
Da fällt mir der Brief wieder ein.
„Doktor Hinrichs, ich wäre Ihnen
sehr dankbar, wenn sie mir noch einen Rat wegen einer anderen Sache
geben würden. Könnten wir uns nachher kurz zusammensetzen, damit
ich mit Ihnen darüber reden kann?“
Er überlegt kurz. Dann aber nickt er
und meint, dass er noch nichts Anständiges gegessen hätte und ob
man sich in einem Restaurant treffen könne.
Dagegen sprach absolut gar nichts. Denn
auch ich spüre jetzt, wie mein Magen anfängt zu knurren.
„Fisch oder Fleisch?“, fragt er.
„Fisch“, antworte ich.
„Igitt Igitt“, mischt sich Jan
Gerdes ein.
Und ich kann es erstens nicht glauben,
dass ein Mensch keinen Fisch mögen kann und zweitens, dass ich
gleich einen netten Abend mit einem noch netteren Mann verbringen
würde.
Single zu sein, ist auf Dauer wirklich
nicht so toll!
Kommentare
Kommentar veröffentlichen