Miris traurige Herbstsonate - Eine Drogengeschichte in mehreren Akten


Lucky saß in seinem Auto und konnte es noch immer nicht fassen. Miri war tot. Erst jetzt - nach der Beerdigung - war es ihm so richtig bewusst geworden.
Diese Scheissdrogen! Sie hätte die Finger davon lassen sollen. Und er war mit daran schuld, dass es soweit kommen musste!
Darum kreisten seine Gedanken. Er erinnerte sich nur zu gut.

***


Es war Ende November gewesen und es hatte geschneit. Viel zu früh für diese Jahreszeit.
Sie fuhren in Luckys Wagen auf der Autobahn, die neu gebaut wurde. Ganz plotzlich war sie zu Ende. Es gab rechts einen kleinen Feldweg. Lucky bog dort ein. Miranda, die auf dem Rücksitz saß, wurde herumgeschleudert. Sie wollte sich nur in Ruhe eine Nase ziehen und hatte gedacht, dass sie da mehr Platz für ihre Utensilien hätte. Jetzt presste sie die Hände an das Autodach, um sich einigermaßen im Gleichgewicht zu halten. 
Je weiter sie fuhren, desto mehr verblassten die Lichter der Stadt und dann sah man auf einmal nur noch Schnee. Kilometerweit. Glänzenden, glitzernden Schnee, der im Licht der Scheinwerfer bläulich leuchtete. Ähnlich einer Mondlandschaft, mit kleineren Erhebungen  und Kratern. Als befände man sich im Weltraum oder verloren auf einem anderen Planeten. Es gab hier Nichts. Keine Häuser, keine Bäume - überhaupt keine Vegetation.
"Was machen wir hier?!", schrie Miranda wütend von ihrer Rückbank. Aber Lucky war so stoned, dass er ihren Zorn nur mit einem müden Lächeln bedachte und dann anfing mit einem seiner Gesänge, die für Miranda keinen Sinn machten, ihm aber viel Spaß. Lucky nannte das Hiphop. Musik, die ihr überhaupt nicht gefiel.
Merkwürdigerweise liebte sie klassische Musik. Sonaten. Nicht Luckys Welt.

"Wir sind nicht mehr weit weg. Gleich gibt’s das allerfeinste Crack..."

 Er lachte und schaute in den Rückspiegel. Das würde Miri aber jetzt gefallen, auch wenn es keine Sonate war. Diese Strophe ist der Burner, dachte er.
Und ja, sie umarmte ihn von hinten und küsste ihn auf´s Ohr. Sie schnurrte wie ein Kätzchen dabei: "Du bist der Beste, Baby. Ich liebe dich."

Dann war die Höllenfahrt über den holprigen Weg zu Ende. Lucky hatte vor einer alten Scheune angehalten, die urplötzlich aus dem Nirgendwo aufgetaucht war.
Lucky parkte direkt vor dem großen Scheunentor, öffnete Miranda die Tür und gemeinsam gingen sie dicht aneinandergekuschelt hinein.
Jemand hatte Sitzgelegenheiten und einen alten Ofen besorgt, Der spendete ein wenig Wärme. Drei Leute saßen auf einem alten Sofa vor dem Ofen und ein anderer Junkie hatte sich in einen Ledersessel gefläzt, der zwar überall brüchig und zerkratzt, aber ansonsten robust erschien.
Und dann geschah das, was Lucky sich bis heute jeden Tag vorgeworfen hatte. Sie wurden zu einer Sitzgruppe gerufen, wo zwei weitere Typen saßen und von denen einer jetzt mit seinem Crackpfeifchen winkte.
 Bisher hatte Lucky alle Bitten von Miranda abgelehnt, wenn es um Crack ging. Doch letztens war sie so wütend geworden und hatte ihn angeschrieen, dass sie sich das Zeug auch allein besorgen könnte, wenn sie wollte, dass er es sich anders überlegt hatte.
Er wollte auf keinen Fall, dass sie das tat! Auf gar keinen Fall! Wer weiß, was die Dealer ihr für einen Mist andrehen würden. Und so hatte er ihr eine Überraschung versprochen, wenn sie nur noch ein paar Tage durchhalten würde. Dass sie schwer Heroin-, und Koksabhängig war, bedrückte ihn sehr. Eine Therapie wolle sie nicht mehr machen.  Zwei hatte sie einfach abgebrochen. Eine Dritte war ihr nicht mehr bewilligt worden.
"Hi Alter", grüßte ihn der mit dem Pfeifchen. Er hatte eine schwarze Lederhose an und sein Oberkörper war nackt. Ihm war nicht kalt. Ihm war schon lange nicht mehr kalt gewesen. Nur wenn er auf Turkey war, fing er übelst an zu bibbern.
"Auch eine?"
Lucky winkte ab. "Ne, danke. Aber meine Freundin hier würde gerne", damit deutete er mit dem Kopf auf Miranda, welche die Situation natürlich schnell erkannt und jetzt ihren Mund zu einem hoffnungsvollen Lächeln verzogen hatte.
"Ja, gerne", sie löste sich aus Luckys Arm, der sie bis dahin umschlungen hatte und setzte sich neben Lederhose.
 Lucky nahm neben ihr Platz, griff sich ein Bier, wovon einige Dosen auf dem Tisch standen und sah zu, wie das Crack für Miri in eine kleine Pfeife gestopft wurde.
 "Wenn du willst, kannst du auch spritzen. Was ist dir lieber?" Er hieß Angel, ein grotesker Name für jemanden, der ihr gerade den Weg in den sicheren Tod bereitete.
 Andererseits... vielleicht kam sie ja damit klar. Er kannte allerdings keinen, der auf Crack war und davon erfolgreich entzogen hatte.
Miri nahm die Pfeife, die er ihr reichte und zündete sie an. Das war ihre Antwort.
Ihre Arme, Beine und Füße waren mittlerweile dermaßen zerstochen und vernarbt, dass sie auf Spritzen gut verzichten konnte. Darum war sie auch so heiß auf Crack gewesen. Das konnte man rauchen.
Sie nahm einen tiefen Zug, dann noch einen und plötzlich verdrehte sie die Augen. "Was ist mit ihr?" Lucky war nervös aufgesprungen.
"Erstes Mal?", kam die Gegenfrage von Angel.
"Ja, verdammt! Mach was, sonst geht sie vielleicht Hopps" schoß es aus Lucky heraus.
Lederhose zog die Augenbrauen ironisch hoch und lächelte.
"Bleib locker, Mann. Beim ersten Mal ist es oft so, dass einem der Kreislauf wegsackt. Ungefähr wie beim ersten Kiffen. Du erinnerst dich? Oder war bei dir sofort alles easy?" Ohne eine Antwort abzuwarten, redete er weiter. "Mach dir keine Sorgen, das gibt sich gleich wieder."
Lucky schaute skeptisch in Miris Gesicht. Aber tatsächlich - nach knapp zwei Minuten, in denen er sich die allergrößten Sorgen um sie machte, war sie wieder da.
Von dem Tag an war sie nie wieder Dieselbe gewesen.

***

 Ok, sie hatten sich getrennt. Er hatte gerade noch den Absprung geschafft, bevor die Drogen endgültig Macht über ihn bekamen. War bei seinem Onkel in der Firma als IT-Spezialist untergekommen. Und dafür brauchte er einen klaren Kopf.
Miri hatte immer wieder versucht, ihn zu überreden, doch mal wieder einen Bong zu rauchen und ständig wollte sie sich Geld von ihm leihen. Irgendwann war es ihm einfach zu viel geworden. Er hatte sie wirklich geliebt, aber er wollte sich von ihr nicht weiter in den Sumpf hineinziehen lassen. Sein Vater war Alkoholiker. Er kam auch nicht von der Flasche los.
Darum glaubte er Miri auch nicht, dass sie immer wieder beteuerte, dass sie bald wieder einen Entzug machen wollte und dann alles anders würde. Sie warte nur auf die Bewilligung. Alles Lüge, wie er später erfuhr.
Hätte er nicht seinen Onkel und seine Tante gehabt, die sich auf einmal ganz rührend um ihn gekümmert hatten, als Mama gestorben und Vater mal wieder in einer Entziehungskur war, wer weiß, was dann aus ihm geworden wäre.
Das wollte er den beiden nicht antun. Sie zu enttäuschen hätte ihm am meisten weh getan.

***
Er fand es lieb von Miris Mutter, dass sie ihm ihr Tagebuch übergeben hatte. „Miri hat immer gesagt, dass du es bekommen sollst, wenn ihr mal etwas passiert“, brachte sie unter Tränen hervor, als sie Lucky nach der Beerdigung traf.
Und jetzt saß er in seinem Auto und hielt es in den Händen. Erst überlegte er, nach Hause zu fahren. Aber dann entschied er sich anders. Er fuhr zur alten Fabrik mit dem verwilderten Park, wo sie sich das erste Mal getroffen hatten, stieg aus und setzte sich unter den Baum, den Miri immer so geliebt hatte, weil er soviel größer und stärker war, als sie...
Jetzt im Herbst waren seine Blätter schon alle abgefallen. Aber er sah immer noch imposant aus.






Er schaute in den Himmel, wie sie es so oft gemeinsam getan hatten und dachte darüber nach, ob sie jetzt wohl ein Engel war. Das hatte Miri sich so vorgestellt. Wenn jemand stirbt, wird er ein Engel und beschützt die Menschen, die es nicht alleine schaffen, in der Welt zurechtzukommen.

Nachdem er eine Zeitlang den Wolken hinterher gesehen hatte, die vorüberzogen, nahm er ihr Tagebuch wieder in die Hand und fing an zu lesen...

***

10.April 1998

Liebes Tagebuch !

Ich muss das endlich mal loswerden. Kann ja sonst mit keinem darüber sprechen. Heute, an meinem 16. Geburtstag habe ich das erste Mal einen echten Joint geraucht ! Halleluja, das war vielleicht ein tolles Gefühl !
Ok, das Rauchen selber fand ich nicht so schön. Der ganze Qualm muss aber leider erst mal in die Lunge, damit man überhaupt eine Wirkung spürt. Ich habe viel gehustet und die anderen haben gelacht. „Little Bingbong“ haben sie mich genannt.
Ich war ganz gespannt auf die Wirkung. Erst wurde mir ganz komisch und als ich aufstehen wollte, fühlten sich meine Knie an, wie als wenn ich Pudding da drin hätte.
Aber dann nach einer Weile fühlte ich mich total leicht und entspannt. Auf einmal musste ich über jeden Scheiss lachen. Ein T-Shirt von meiner Freundin hatte es mir besonders angetan. „Hello Kitty“ auf der Vorderseite und auf der Rückseite „Superman“. Ich habe ihr zugerufen, dass sie sich mal im Kreis drehen soll. Als sie sich drehte wie verrückt, hatte ich das Gefühl, dass sie gleich vom Boden abhebt, Superman mit Kitty verschmilzt und dann beide hoch am Himmel tanzen. Mein Bauch tat schon so weh vor lauter Lachen, aber ich konnte einfach nicht aufhören. Laura-Sofie sagte mir dann, dass ich einen Lachflash hätte. Und die anderen kriegten sich auch nicht mehr ein vor Lachen, als ich ihnen erzählte, welcher Film da gerade bei mir abging. Es war wirklich ein schöner Geburtstag. Jetzt freue ich mich schon ganz doll auf das nächste Mal. Ja, ich weiss, man muss mit Drogen vorsichtig sein. Aber mir passiert schon nichts. Ich werde es unter Kontrolle behalten, das schwöre ich.
Deine Miri


November 1998
Liebes Tagebuch,

ich bin verliebt. Er heißt Lucky. Das ist natürlich nur sein Spitzname. Aber er passt so gut zu ihm!!! Lucky ist immer gut drauf und bringt mich zum lachen. Wenn wir zusammen einen Joint rauchen, kugeln wir uns immer auf dem Boden vor Lachen. Er hat mich schon mal geküsst. Das darf aber außer dir keiner wissen.
Er findet mich hübsch, sagte er. Ok, ich habe ziemlich langes, blondes Haar, auf dass ich sehr stolz bin und Mom meint, ich hätte ein Puppengesicht. Aber so oben ´rum ist fast noch gar nichts zu sehen. Darum stopfe ich mir manchmal auch Taschentücher in meinen BH.
Meine Mom würde im Dreieck springen, wenn sie das alles erfahren würde. Ich soll mich schließlich auf die Schule konzentrieren und nicht auf Jung´s. Ja, so sind die Erwachsenen. Wissen immer alles besser. Mir geht das echt auf die Nerven. Aber wenn ich mit Lucky kiffe, dann vergesse ich alles und schon geht’s mir besser.
Wir kiffen auch nicht soviel. Also ich nicht. Lucky ist ja schon etwas älter. Mit 18 gibt man sich mit Joints nur noch hin und wieder mal zufrieden, habe ich herausgefunden. Lucky raucht schon richtige Bongs! Das will ich auch mal probieren. Aber jetzt fühle ich mich noch zu jung dafür. Obwohl... ich bin ja schon 16 1/2...




02.Januar 1999

Liebes Tagebuch,

Silvester hat eigentlich ganz gut angefangen.
Ich war mit Laura-Sofie und Lucky auf einer Goa-Party! Vorher haben wir uns bei Lucky zuhause noch einen Bong geraucht. Ja, ich weiß. Ich bin ja eigentlich noch zu jung. Aber ich hab´s ja im Griff. Mittlerweile kann ich schon eine Menge vertragen. Ach ja, ich gebe Lucky jetzt immer etwas von meinem Taschengeld. Er kann ja nicht immer alles für mich mitbezahlen. Das Zeug ist  teuer. Lucky will es zwar nicht, doch ich bestehe darauf.
Auf jeden Fall waren wir auf dieser Goa-Party und da haben mir ein paar Mädchen aus der Oberstufe, die ich durch Lucky kennengelernt habe, Speed angeboten. Einige nennen es auch Pep. Lucky hat immer gesagt, dass man von so was die Finger lassen sollte. Also habe ich es abgelehnt. Als ich rausging, habe ich sie kichern gehört und wie sie sagten, dass ich noch ein Baby wäre. Gemeinheit. Ich kannte mich doch schon so gut mit Drogen aus. Aber sie hatten ja auch ein bisschen recht. Speed hatte ich noch nie probiert. Als ich das nächste Mal auf´s Klo musste, standen wieder zwei von den Mädels da und ich bin einfach ganz cool hingegangen und habe sie gefragt, ob sie nicht Etwas für mich hätten.
Erst haben sie mich ganz blöd angeguckt. Doch dann hat Kessy, die dünne Blonde, in ihre Jackentasche gegriffen und mir ein winziges Päckchen in die Hand gedrückt. Ich sollte aber aufpassen, dass ich mir hinterher gut die Nase abwische. Da ich nicht wusste, wie man das Zeug nimmt, ging ich erst mal zum Waschbecken und wusch mir die Hände. Ich wusste nicht, ob ich sie fragen sollte oder nicht. Wollte auch auf keinen Fall, dass sie nochmal „Baby“ zu mir sagen.
Da winkte Kessy mir zu, ich solle mitkommen. Sie schlenderte lässig zu einer Toilette, hielt die Türe auf und ihre Freundin ging hinein. Ich beeilte mich damit ihr hinterher zu kommen und dann schloss Kessy ab.
Ich musste sie nicht fragen... gottseidank.
Kessy nahm einen Geldschein und rollte ihn ganz eng zusammen. Dann schüttete sie ein bisschen von dem Speed auf den Klokasten und schob ihn mit ihrer Bankkarte zu einem ganz dünnen Strich zusammen. Sie nahm das dünne Geldröhrchen, hielt sich mit der einen Hand das linke Nasenloch zu und zog mit dem anderen Nasenloch das Speed in ihre Nase.
Dann schob sie wieder alles zusammen zu einer Linie und wiederholte das Gleiche mit dem rechten Nasenloch. Zum Schluss strich sie mit dem Finger über den Klokasten und leckte sich den Finger ab.
Ich hatte sehr gut aufgepasst, aber jetzt war erst mal ihre Freundin dran. Inzwischen hatte ich meine Geldkarte und einen Schein aus meinem Portemonnaie gekramt, damit ich es ihnen nachmachen konnte.
Als ich endlich dran war, bin ich doch etwas nervös geworden. Ich kannte die Wirkung ja nicht. Ein bisschen hatte ich schon Angst davor. Aber die Mädels waren so gut drauf und konnten die ganze Nacht durchmachen, ohne dass sie müde wurden, hatten sie mir erzählt. Das wollte ich auch. Denn gerade Silvester hatte ich keine Lust, schon um Ein Uhr ins Bett zu gehen.
Gut, dass ich Mom und Paps erzählt hatte, dass ich bei Laura-Sofie schlafe.

Die Wirkung trat so ungefähr nach einer Viertelstunde ein. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Wenn ich kiffe, dann kommt der Kick immer langsam, bleibt eine Weile und ich kann später nach dem Fresskick, den ich leider jetzt Jedesmal anschließend bekomme, supergut einschlafen.
Ich habe durch die Süßigkeiten auch ganz schön zugenommen. Aber was soll´s!? Ich wachse ja noch. Dann hebt sich das wieder auf, meint Lucky.
Ich war tatsächlich noch lange nach Ein Uhr voll fit und redselig, wobei die Sätze schneller aus mir heraussprudelten, als mein Gehirn folgen konnte. Ich glaube, ich habe viel dummes Zeug geredet. Wir gingen dann noch mit mehreren Leuten  mit zu Lucky nach Hause, der sich schon sehr auf seinen Bong freute Auch die Mädels, die mir das Pep gegeben hatten, waren mit dabei. Normalerweise hätte ich mich zurückgehalten, da ich da nie lange mit Lucky mithalten konnte und sehr schnell platt war, nach einem Bong. Doch auf Pep konnte ich gar nicht genügend Köpfchen rauchen! Was zur Folge hatte, dass wir unglaublich „breit“ wurden, wie wir das unter uns nennen. Es fühlte sich sehr gut an.Wir Mädels hatten die krassesten “Lach-Flashs”. Stundenlang lachten wir über Alles und Jeden und ich war so gut drauf, wie seit meinen Kiffer-Anfangstagen nicht mehr. Das Pep hielt mich fit und es machte mich ein wenig neidisch, dass Lucky das gar nicht brauchte und ihm sein Bong genügte.
Wir haben bis morgens um 6 Uhr durchgemacht. Am späten Nachmittag wachte ich auf und war sofort hellwach, wenn auch körperlich irgendwie ziemlich daneben. Ich glaube, ich brauche diese Erfahrung nicht noch einmal....Mit Gras komme ich viel besser klar.



10.April 1999

Liebes Tagebuch !
Jippieh ! Heute werde ich 17 !!! Und Party ist angesagt. Wobei ich noch nicht weiß, bei wem und wo sie stattfinden wird. Es soll eine Überraschungsparty für mich werden. Dann lasse ich mich mal überraschen.
Zuhause feiere ich auf jeden Fall nicht. Mom hat Kuchen gebacken. Ok, dazu lasse ich mich gerade noch hinreißen, aber danach bin ich weg. Ich freue mich!!!



April 1999

Liebes Tagebuch !
Natürlich hat Lucky eine  Party für mich organisiert! Er ist sooooo süß!!! Und auch, wenn er erst nicht wollte, hat er später doch mit uns ein paar Bahnen gezogen.
 Aber Speed oder Pep ist was für Säuglinge. Seit ich mit Jana und Konga Koks geraucht habe, gibt es für mich nichts Besseres mehr! Das Zeug ist leider verdammt teuer. Aber bis jetzt hat Mom noch nicht gemerkt, dass ich ein paar Ketten von Oma und einen Ring aus ihrem Schmuckkasten genommen habe. Man kann es sich durch die Nase ziehen, oder rauchen. Da ich immer so schnell Nasenbluten bekomme, ziehe ich es vor, es zu rauchen. Aber ab und zu geht auch mal ´ne Bahn. So wie gestern.
Ich muss jetzt leider immer viel Vitamin C-Tabletten einnehmen. Habe nämlich nicht mehr soviel Appetit und gottseidank auch keine Fressanfälle mehr, wie früher, als ich noch die Bongs geraucht habe. Abgenommen habe ich auch! Koksen ist einfach geil!



27.Dezember 1999

Liebes Tagebuch,
bin Zuhause abgehauen. Ich habe diesen ständigen Druck nicht mehr ertragen. Jeden Morgen derselbe Scheiß. Aufstehen, zur Schule gehen, denk an deine Zukunft Kind, lern´ erst mal was Richtiges, dann kannst du auch feiern gehen, usw.
Mir ging das so was von auf den Keks !
In ein paar Monaten bin ich Achtzehn und dann können sie mir sowieso nichts mehr sagen. Ich bin so froh hier aus dem fucking Elternhaus raus zukommen, das kannst du dir gar nicht vorstellen.
Jetzt wohne ich erst mal bei Lucky.
Uns geht’s im Moment nicht so gut. Er hat die Schule geschmissen und keinen Job. Ich habe auch keinen Bock mehr auf die scheissfucking Schule und habe mich erst mal krank schreiben lassen.



26.April 2000

Liebes Tagebuch,
es ist schon komisch. Erst wollte ich ja nur mal einen Joint rauchen. Dann habe ich Speed probiert und  Koks.
Aber jetzt habe ich mich vor kurzem von Pepe, der ein Freund von Lucky ist, überreden lassen, Pilze zu nehmen. Es kratzt nicht so im Hals, hat er gemeint und wenn man sich unter Kontrolle hat, wird man auch nicht abhängig. Da er ja Erfahrung mit Sowas hat, wollte ich es wenigstens mal ausprobieren. Er machte den Trip klar, dann setzten wir uns jeder in einen Sessel und warteten ab.

 Kurz darauf traten bei mir erste optische Halluzinationen auf. Die Zimmerdecke begann sich wie eine Meeresoberfläche wellenförmig zu bewegen. Pepes Zimmer begann zu schwanken und schien nicht mehr im Gleichgewicht zu sein, sondern war irgendwie total lang wie ein Schlauch und gleichzeitig abschüssig wie ein Berg. Diese Phase ließ aber schon bald wieder nach und ich glaubte, damit wäre alles schon vorbei. Jedenfalls dauerte es nicht lange und ein Gefühl des Glücks kam in mir auf. Es schien sich wie eine Welle über mir auszubreiten, so gewaltig, wie ich es noch nie erlebte. Ich hatte einen unglaublichen Drang zu lachen und wurde fast von diesem Glücksgefühl erdrückt. Es schien als wären bei mir alle Glückshormone gleichzeitig ausgeschüttet worden. Ich wusste überhaupt nicht wohin mit all diesen Gefühlen.
Das war gleichzeitig auch das letzte positive Gefühl dieses Trips.
Danach brach buchstäblich die Hölle über mich herein. Mein Gehirn wurde richtig bombardiert mit Geräuschen und Gedanken. Ich kann mich an keine Bilder erinnern, nur dass ich eine Art Tunnelblick hatte und alles verzerrt erschien. Es fühlte sich an, als würde jemand mein Gehirn von allen Seiten mit einem Hammer bearbeiten. Ich hatte komplett die Kontrolle verloren, konnte mich auf nichts konzentrieren. Zwischen Eindrücken von allen Seiten konnte ich Sekundenweise kurze klare Gedanken fassen, die sogleich wieder abgelöst wurden durch Töne. Töne, die ich aber nicht über meine Ohren wahrnahm, sondern die in meinen Kopf tobten. Alles was auf mich einstürzte, sah ich oder hörte ich nicht, sondern es passierte in meinem Gehirn.

Ich hatte fast das Gefühl verrückt zu werden.Irgendwann fielen mir Geschichten über Leute ein, die nicht mehr vom Trip runterkamen. Da habe ich solche Panik bekommen und wollte alles so schnell wie möglich irgendwie loswerden. Aber wie ? Ich rannte ins Bad und schloss mich ein. Es gelang mir nicht mich zu übergeben, was meine Panik steigerte. Es war ja jetzt schon in meinem Blut. Das mit dem Kotzen konnte ich also vergessen. Ab und zu hatte ich klare Momente, aber die wechselten sich ab mit Panikartigen. Ich lief orientierungslos in Pepes Wohnung herum, schaltete Geräte ein und aus und wusste nicht, was ich tun sollte.
Pepe war im Gegensatz zu mir ganz in sich zusammen gesunken und lag halb auf seinem Sessel. Seltsamerweise wusste ich, dass es „da draußen“ noch eine Welt des „normalen Geisteszustandes“ gab, gleichzeitig dachte ich, dass ich selbst jetzt gerade verrückt werden würde und ich war überzeugt, ich würde nie mehr normal werden und wohl den Rest meines Lebens in der Psychiatrie verbringen müssen. Gottseidank war dieser Trip irgendwann doch zu Ende. Also Pilze werde ich nie wieder nehmen, das schwöre ich.







4.November 2005

Liebes Tagebuch,
ich habe keinen Bock mehr. Weißt du wie ich aussehe? Alt! Uralt! Und überall Pickel, Entzündungen und meine Haut ist an einigen Stellen aufgeplatzt.
Dann finde ich fast schon keine Stelle mehr, in die ich mich spritzen kann.
Ja, ich weiß. Ich habe immer gesagt, ich werde das alles schon unter Kontrolle behalten.
Woher sollte ich denn wissen, dass es wirklich so schnell geht, wenn man einmal mit Crack angefangen hat?
 Dabei hatte ich doch damals den Film mit Christiane F. gesehen, "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" und war voll abgeturnt. Ich wollte niemals etwas mit Drogen zu tun haben.
Und jetzt?
 Ich wiege nur noch 45 Kilo und auf dem Strassenstrich schubsen sie mich weg, wenn ich da anschaffen will.
Aber auf dem Strich für Junkies verdiene ich doch nichts!!! Wenn einer überhaupt noch bezahlt...
Männer sind Schweine, liebes Tagebuch. Aber Frauen auch, das kann ich dir sagen. Als ich letztens wieder unter der Corunius-Brücke geschlafen habe, zusammen mit Luna und Pitty, war am nächsten Morgen meine letzte Flasche Wein weg, die ich extra versteckt hatte.,
Wenn ich mir heute wieder kein Crack kaufen kann, dann stelle ich mich noch einmal in den S/M-Park und lasse mich von mir aus von Allen benutzen, die wollen. Hauptsache, ich kriege das Geld zusammen für meine Pfeife.
Und dann ist Schluss. Es wird meine Letzte sein.

Warum?
Warum?

Warum?!

Warum konnte ich meine Finger nicht von den Scheiss-Drogen lassen?!!!

Egal.
Im Himmel brauche ich keine Drogen mehr...


Liebes Tagebuch, es ist 23.55 Uhr. Die perfekte Zeit für den perfekten Abgang.

Und, Mom, wenn du das hier liest, mach dir keine Vorwürfe. Es war nicht deine Schuld.
Verzeih mir bitte.
Mein letzter Wunsch wäre, dass du Lucky mein Tagebuch gibst und ihm sagst, dass auch er keine Schuld hat. Ich habe ihn so sehr geliebt. Aber der Scheissstoff war stärker.  Das soll er wissen.


Deine Miri


***

Luckys Schultern bebten, weil er von Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
Das Tagebuch fiel aus seinen Händen und landete im Gras zwischen seinen Beinen.
Als er es wieder aufheben wollte, sah er etwas Silbernes neben einem vertrocknetem Blatt glitzern.
Er hob es vorsichtig auf und betrachtete es von allen Seiten. Plötzlich kam ihm die Erkenntnis. Es war ein kleines Hufeisen, welches er vor langer Zeit verloren hatte. Ein Geschenk von Miri, dass ihm Glück bringen sollte.
Er hatte es nicht an einer Kette tragen wollen, weil ihm das kitschig und albern vorgekommen wäre. Darum landete es damals, als sie es ihm schenkte – genau hier, unter ihrem Lieblingsbaum – in seiner Jackentasche. Es war ihm gar nicht aufgefallen, dass er es nicht richtig eingesteckt hatte.
Miri war darüber ziemlich sauer gewesen.
Sie hätte es mal lieber selbst behalten sollen, dachte er.  Aber ihm schien es ja tatsächlich Glück gebracht zu haben, auch ohne, dass er es mit sich herum getragen hatte.

Lucky war endgültig fertig mit Drogen. Und Miris Tod würde ihn in seiner Motivation - auf Dauer clean zu bleiben - noch ganz besonders unterstützen.

„Danke Miri...“, flüsterte er und seine Augen wanderten ein letztes Mal zum Himmel, der blau und strahlend auf ihn herabschaute.
„Leb´ wohl."



© Tilli Ulenspeel

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Kommentare

  1. Bisher hatte ich die Geschichte nur gehört. Jetzt, gelesen, finde ich sie noch besser als vorher.
    Ich frage mich allerdings, ob jemand tatsächlich bewusst sein Tagebuch "vererbt". Vor allem in einem Alter, in dem noch alles möglich scheint.

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  2. Danke Toschi....Tja, Miri ahnte ja schon, dass ihr Leben nicht mehr so lange lebenswert sein würde - unbewusst halt. Und aufgrund dessen hat sie ihrer Mutter gegenüber den Wunsch geäussert.

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  3. Ich habe jetzt gleich die erste Geschichte gelesen und bin nicht nur tief bewegt sondern auch begeistert.
    Mit deiner Geschichte und nicht zuletzt dem wunderbaren Schreibstil, würdest du sicher viele Jugendliche erreichen (zb Drogenprávention) Toll!!!

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  4. Danke Sabine. Das war meine Intension. Ich möchte durch meine Geschichten etwas bewegen. Berühren, zum nachdenken anregen. Wenn mir das bei dir gelungen ist, dann freut es mich sehr.

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