VERHEXT - Zwei neue Kurzgeschichten




Im Rahmen der Lesung "Spiel mit dem Feuer" haben Torsten Ideus und ich wieder einige Kurzgeschichten geschrieben. Zwei davon möchte ich heute in meinem Blog vorstellen. Sie werden später in meiner neuen Anthologie zu lesen sein. 
Hier also ein kleiner Vorgeschmack aus dem Buch...
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Die Anklage

Erstes lautes Getuschel im Gerichtssaal...
Einer der Obersten des Rates erhebt sich und klopft kräftig mit seinem Hammer auf den Richtertisch. „Ruhe! Sofort Ruhe im Gerichtssaal! Wenn ihr euch nicht mäßigt, lasse ich euch alle in den Kerker werfen!“ Seine Hand unterstreicht diese Androhung bildhaft. Er wischt sich mit einem feinen Tuch über das mittlerweile schweißnasse Gesicht, welches bereits anfängt rot anzulaufen. Ein Zeichen dafür, dass er kurz vor einem Zornesausbruch steht. Auch sein Magen schmerzt fürchterlich. Gleich wird sich der Leibarzt darum kümmern. Jetzt muss er erstmal die Verhandlung hinter sich bringen. 
„Ihr kennt die Gesetze. Die Strafe für Ehebruch ist dem Manne überlassen. Soll er ihr die Haare abschneiden und sie durchs Dorf treiben. Das ist sein gutes Recht. Außerdem wurde mir aber noch zugetragen, dass sie mit dem Teufel im Bunde steht. Sie soll eine Hexe sein. Das erfordert sofortige Untersuchung.“
Empört springt Gertrude Kolgrim, eine Frau mit langen, wallenden, feuerroten Haaren auf. Sie ruft laut: „Aber nicht sie war es, welche die Ehe gebrochen hat, Euer Gnaden!“ Sie wagt es trotz der Androhung von Kerkerstrafe. Aber Gertrude mag keine Ungerechtigkeiten. 
Die Menschen fangen an zu lachen. Ein Jüngling, welcher auf einer der obersten Bänke sitzt, fällt auf, weil er am lautesten lacht. Höhnisch verzieht er seinen Mund und lässt eine unglaubliche Behauptung folgen. Er zeigt mit dem Finger auf Gertrude und stößt angewidert aus: „Das sagt ausgerechnet eine, welche selbst ihre Beine nicht zusammen halten kann. Wir wissen doch alle, dass Ihr vom Teufel besessen seid und mit ihr unter einer Decke steckt. Warum solltet Ihr sie sonst verteidigen?“ Das ist eine harte und ernste Anschuldigung.

Marie, die hier heute vor Gericht steht, zittert vor Angst. Warum hält sich Gertrude nicht raus? Lieber würde sie, wie es bei einem Ehebruch üblich ist, aus dem Hause gejagt werden und vor den Augen aller Verwandten, Nachbarn und Freunde kahlköpfig und nackt durchs Dorf laufen. Selbst die Rute, die sie anschließend  von allen spüren würde, wäre ihr hundertmal lieber, als für eine Hexe gehalten zu werden. Sie  ist unschuldig. Warum glaubt ihr bloß niemand? Alle sind still und haben Angst, etwas zu ihren Gunsten vorzubringen, weil sie ansonsten selbst beschuldigt werden könnten, von ihr verhext worden zu sein. Außer Gertrude. Die gute Seele. Marie versucht ein letztes Mal aufzubegehren. Leise spricht sie ein paar Worte, die aber außer ihren Wächtern keiner vernimmt. 
„Was faselt sie da?“, ruft einer der Männer des hohen Rates aufgebracht. „Womöglich irgendwelche heidnischen Zauberformeln! Sprich lauter, Hexe“, fordert er sie auf.
„Ich ...“, beginnt Marie zögerlich zu sprechen. Ängstlich schaut sie sich dabei um. „Ich bin unschuldig, edler Herr.“ Mehr bringt sie leider dann doch nicht heraus.  Nervös zerknüllen ihre Hände dabei das schlichte Gewand, welches sie trägt. Kaum wagt sie es, einen Blick auf das Tribunal zu werfen, vor dem sie steht. Sie hat so viele Worte auf den Lippen. Doch sie stecken ihr im Hals fest. Marie räuspert sich, um doch noch etwas zu ihrer Verteidigung herauszubringen. Zu spät.
„Sie lügt!“ ruft jemand in den großen Saal. „Was will man auch von einer Hexe anderes erwarten, als das sie lügt, wenn sie ihr Schandmaul aufreißt.“
„Nun, das lässt sich ja herausfinden. Und darum sind wir heute hier“, erwidert Heinrich von Walfried, einer der höchsten Amtsmänner im Tribunal. Er ist als hoher kirchlicher Würdenträger nicht sehr beliebt in der völkischen Gunst. Jeder weiß, wie streng seine Urteile sind, besonders wenn es sich dabei um das Weibsvolk handelt.

 „Gibt es hier irgendjemanden, der für sie sprechen will?“ Seine Worte hören sich herausfordernd und bedrohlich an. Seine  Augen bohren sich dabei feindselig in die von Gertrude.  Er vermutet, dass sie aus Angst davor, selbst als Hexe verurteilt zu werden, jetzt schweigen wird. Ein kaum sichtbares Lächeln liegt auf seinem Mund. Böse, kalt und gefährlich.
Doch Gertrude denkt gar nicht daran, ihren Mund zu halten. Das, was sie jetzt zur Verteidigung von Marie vorbringt, wird bestimmt Folgen haben. Aber das ist ihr egal. Erregt springt sie ein paar Schritte nach vorn, um näher bei Marie sein zu können. 
Dann erhebt sie ihre Stimme: „Wie ihr alle wisst, hat Marie als einziges Kind Hab und Gut von ihren Eltern geerbt, die vor einigen Jahren durch ein schweres Unglück beide zu Tode kamen. Dazu ein hübsches Sümmchen an Goldtalern. In den letzten Wochen und Monaten hat Marie sich aufgemacht, um mit ein bisschen Gold den Armen und Kranken unserer Stadt zu helfen. Das ist ihr einziges Verbrechen, hoher Herr. Dafür kann man sie doch nicht bestrafen! Aber ihrem Mann Rupprecht“, sie macht eine kleine Pause und zum zweiten Mal stellt sie Maries Ehemann in den Mittelpunkt des Tribunals, indem sie auf ihn deutet. „Ihrem Mann ist Maries Eifer und ihr mildtätiges Tun überhaupt nicht recht. Ich weiß, dass er sie aufgefordert hat, ihren selbstlosen Dienst einzustellen. Er hat ihr vorgeworfen, sein Geld zu verschleudern.“ 
Ihre Augen sprühen Funken und ihre Stimme klingt jetzt fast schrill, als sie sich wieder dem Gericht zuwendet. „Und wisst ihr, was er noch verlauten ließ? Sollte Marie nicht damit aufhören, würde er schon dafür sorgen! Ich frage euch, was kann damit wohl gemeint sein? Einem Manne fällt doch immer etwas ein, um eine Frau zu verunglimpfen.“
 Ein direkter Angriff auf alle Männer. Das kann nicht gut ausgehen...

Doch keiner hat sie bisher in ihrem einsamen Plädoyer für die Angeklagte unterbrochen. Zu temperamentvoll ist ihr Auftritt. Einige weichen sogar zurück. Aber auch Argwohn macht sich breit. Sie hört, wie einige Bürger sagen, dass Gertrude vielleicht gar nicht so Unrecht hat. Diese wirft gerade wieder zornige Blicke auf Maries Ehemann.
Erschrocken hält sich Marie ob dieser Dreistigkeit die Hand vor den Mund. Gertrude ist zwar ihre Freundin, aber sie sollte es besser nicht übertreiben. Doch es kommt noch viel schlimmer. Ihr Ehemann, der bisher stoisch auf einer der Bänke gesessen hat und in seiner Miene nichts von dem erkennen lässt, was er innerlich fühlt, rutscht jetzt unruhig auf seinem Sitz hin und her, als Gertrude langsam auf ihn zukommt. Keiner stoppt sie. Nicht einmal die Schergen, die dazu da sind, um für Ordnung zu sorgen. Jeder ist gespannt, was sie noch alles sagen wird, um Marie zu verteidigen. 
„Warum verunglimpft Ihr Eure Frau so?“ Sie spricht leise, aber  bedeutsam. „Wenn ihr diese Anschuldigung gegen Marie nicht zurücknehmt, werde ich dem hohen Rat erzählen, was ich über euch weiß. Und da kommt Einiges zusammen.“ Bei diesen Worten hat sie schon wieder ihre Stimme erhoben und sich den Zuschauern im Saal zugewandt.
Endlich fühlt sich Maries Ehemann gemüßigt, zumindest einen Teil dazu beizutragen, dass seine Frau nicht doch noch durch die emsige Verteidigung ihrer besten Freundin, daran vorbeikommt, als Hexe verbrannt zu werden. Er hat sich das einfacher vorgestellt. Aber diese Frau muss tatsächlich mit dem Teufel im Bunde sein.  Ein wahres Teufelsweib.

„Nun, Gertrude, ich weiß im Grunde wirklich nicht, wessen Ihr mich beschuldigen wollt.“ 
Jetzt erhebt er sich, um präsenter zu sein und alle glauben zu lassen, dass Gertrudes Worte ihn nicht treffen können. 
„Meine Aussagen über diese gottlose Hure, die sich meine Ehefrau nennt, sind wahr. Ich habe selbst gesehen, wie sie bei dem Jüngling Gottlieb lag und ihn fest im Arm hielt. Sie hatten die Bettdecke über sich gezogen, so dass man von ihrem schändlichen Spiel nicht sehen sollte.“
Wieder ein Raunen und Tuscheln im Saal, welches erst immer lauter wird und schließlich gemeinsam wie in einem Chor böse von allen Stimmen erklingt:
„Lasst die Hexe brennen! Lasst die Hexe brennen ...!“
Maries Ehemann lächelt. Er scheint seinem Ziel wieder etwas näher gekommen zu sein. Gertrude stößt nach.
„Ich habe Euch gesehen. Mit meinen eigenen Augen. Auch die Baderin hat´s gesehen. Ihr habt nicht nur mit einer, sondern gleich mit  zwei Weibern gotteslästerlichen Ehebruch begonnen - und dafür noch bezahlt!“
„Ihr beliebt zu scherzen. Für so etwas verschwende ich doch keinen einzigen Taler.“ Süffisant strich Rupprecht sich über seinen Oberlippenbart und setzte sich einfach wieder hin. Er ist sich seines Sieges und der Folgen für seine Frau Marie sehr sicher. Schließlich hat er gute Freunde auf hohen Posten. Und Gertrude sollte besser jetzt ihr Schandmaul halten. Die Baderin, die einen guten Ruf bei den Leuten genießt, würde den niemals aufs Spiel setzen, wegen einer Hexe. Er bedauerte, dass es bisher noch nicht zur Folterung gekommen war. Dann hätten sie heute schon ihr Geständnis gehabt und er müsste sich nicht mit dieser Furie auseinandersetzen. Doch das ist jetzt alles nur noch eine Frage der Zeit. Er zwinkert seinen Freunden zu, die er oben im Rat weiß.

Gertrude ist außer sich vor Zorn. Warum glaubt ihr keiner? Sie kommt sich vor, als stände sie selbst vor dem hohen Rat und müsse sich verteidigen. So sehr empfindet sie die grausige Schmach von Marie mit. 
„Es mögen Euch durch Krankheit und Aussatz, Afterballen und Gemächt abhandenkommen, wenn Ihr nicht endlich die Wahrheit sagt, anstatt Eure Frau hier anzuklagen!" schreit sie. Jetzt springt Gertrude auf ihn, will ihn hochzerren und ihm das Lachen aus dem Gesicht kratzen. Das wird den Schergen dann doch zu viel. Sie springen herbei und ziehen Gertrude von Rupprecht weg.Der Gerichtsrat ist von dem temperamentvollen Einsatz Gertrudes ein bisschen überfordert. Schließlich haben sie hier das Sagen. Aber diese Frau setzt sich einfach über alle Regeln und Normen hinweg. Das haben sie bisher noch nie erlebt. Sie müssen jetzt eingreifen, aber vor allem durchgreifen. Obwohl jeder von ihnen, auch die Freunde Rupprechts nicht umhin kommen, Gertrudes Engagement zu bewundern. Das ist echte Loyalität. Keiner von ihnen hat so einen mutigen und kämpferischen Freund. Und wenn man beweisen könnte, dass Marie tatsächlich unschuldig ist? Dann bleibt da immer noch die Sache mit der Hexerei. Sie dürfen jetzt wegen dieser Gertrude auf keinen Fall ihr Gesicht verlieren. Irgendwas werden sie schon finden. Und bei der Folter hat noch jeder gestanden.
Die Baderin, die ganz hinten im Saal steht, hat Tränen in den Augen, als Heinrich von Walfried verkündet, dass beide Frauen festzunehmen wären und ihre „Sache“ untersucht werden müsse, da man hier zu keinem Ergebnis gekommen ist. Und alle, die etwas gegen die Frauen vorzubringen hätten, sollten sich bei ihm melden. Er würde das als gottesfürchtige Tat werten und ein mildes Auge auf diese Kinder Gottes haben...

_____________________________ Ende_______________________________
Aber: 
So könnte das tatsächliche Ende auch sein. Der negative Ausgang 
Zwei Wochen später lodert auf dem Platz, auf welchem die Hexen gewöhnlich verbrannt werden, ein großes Feuer.
In einem Holzkarren sitzen Marie und Gertrude, deren Köpfe kahlgeschoren worden sind. Gleich wird er losrumpeln auf dem steinigen unebenen Weg. 
Rupprecht drängt sich durch die Meute, die dem großen Schauspiel beiwohnen will und bleibt vor dem Karren stehen. Er flüstert durch die Gitterstäbe, die ihn von seiner Frau und Gertrude trennen. Nur ein paar Worte. Doch diese sind sehr bösartig und hässlich:
„Warum musstet Ihr auch mit dem Feuer spielen, Gertrude? Jetzt seht, was Ihr da entfacht habt. Danke Marie für deine Mitgift. Ich wünsche viel Vergnügen im Fegefeuer.“

2. Version
Ein positiver Ausgang
Die Baderin hat einen Riesenrespekt vor Gertrude. Ihr Kämpferwille bricht sich einen Weg durch Angst und schlechtem Gewissen. Vielleicht müsste man hier ein Exempel statuieren. Keiner würde damit rechnen, dass sie noch ein As im Ärmel hat. Diese Hexenprozesse mussten endlich ein Ende finden.
Am gleichen Abend noch betrat sie mit den beiden Frauen, von denen Gertrude gesprochen hatte, das Gemach ihres Vetters Gottlieb von Wertheim. Dieser gehörte zufällig auch dem großen Tribunal an. Die Baderin ist nicht nur seine Tante, der er immer sehr verbunden war, sondern sie ist ihm in früherer Kindheit auch eine Art Mutterersatz gewesen. Er liebt sie sehr und vertraut auch heute noch auf ihr Urteil. Jetzt erzählt sie ihm gerade ihre Version der Geschichte. Sie bestätigt alles, was Gertrude ausgesagt hat und die beiden Frauen bezeugen es. Außerdem bringt sie ihm einige Urkunden, die Rupprecht immer mal wieder bei ihr im Baderaum oder bei den Huren vergessen hatte. Das sind Beweise darüber, dass er viele von seinen angeblichen Freunden sehr oft übervorteilt hatte. Er hat ihren guten Namen benutzt, um sich selbst zu bereichern. Gottlieb schreibt alles auf und lässt die Frauen zuletzt unterzeichnen. Sie machen ihr Kreuz auf das Stück Papier und atmen sichtlich auf.
Bei der erneuten Verhandlung spielt das eine große Rolle. Eine gedemütigte Ehefrau, die doch mit ihren Almosen eigentlich nur ein gutes Werk tut, steht der boshaften, willkürlichen Aussage eines Ehemannes gegenüber, der nachweisbar herumgehurt hatte und aufgrund windiger Geschäfte nicht mehr als Ehrenmann gelten kann. Marie und Gertrude werden freigesprochen.
Jetzt muss sich Rupprecht rechtfertigen.
Überglücklich darüber, dass sie dem Tod noch einmal von der Schüppe gesprungen sind, umarmen sich die Freundinnen und laufen gemeinsam in die Arme der Baderin, die mit Tränen in den Augen ihre Arme ausbreitet, um die Frauen zu empfangen.

© Tilli Ulenspeel
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Begegnung im Moor

In diesem Jahr will der Winter nicht enden. Es ist ein Jahr mit einem Frühling, den es nicht gibt, in dem die Sonne nicht scheinen will und die Tage gefüllt sind mit ununterbrochenen Regengüssen.
Die Bachläufe entwickeln sich zu kleinen Flüssen; die Flüsse und Seen treten über ihre Ufer und der feste Boden der grünen Wiesen wird zur Moorlandschaft, wie schon so oft seit ewigen Zeiten. Die Erde, die zu dieser Zeit eigentlich schon von kleinen Sprösslingen bewachsen wäre, sieht aus wie eine Seenlandschaft. Bäume, Sträucher und Frühjahrsblumen wollen nur sehr mager blühen. Vereinzelt versuchen einige Bienen den Nektar der wenigen Blüten zu ergattern.
Da geschieht plötzlich etwas Merkwürdiges.
Im Moor wird es schlagartig still.
Die Bienen verstummen, kein Vogelgezwitscher, kein Knarren der alten Bäume, die als stumme, krummgewachsene Relikte von fernen Zeiten erzählen. Kein Lebewesen wagt es, sich zu bewegen. Im Dickicht unter den Bäumen regt sich jetzt etwas.
Urplötzlich treten aus verschieden Richtungen uralte Hexen auf eine kleine Lichtung.
Sie schreiten zur Mitte. Sie sehen sich an und sind verwundert über die Zusammenkunft. Der Winter ist noch nicht vorüber und das nächste Treffen sollte erst stattfinden, wenn die ersten Vögel aus ihren Eiern schlüpfen, das Gras kniehoch ist und die Sonne ihren bleichen, ausgelaugten Teint wärmt.
Ihren bleichen Fratzen sieht man die Strapazen der langen, vergangenen Monate an, die sie in Dunkelheit, oft bei Eiseskälte ausgeharrt haben. Unter der Herrschaft der Verdammnis. Das, was sie am Leib über ihren dürren Knochen tragen, ist zerschlissen von den kalten und langen Wanderungen durch das Geäst und Unterholz des nicht enden wollenden Moores.
Sie entfachen ein Feuer, um ihre runzligen Leiber von dem ständigen Nass zu trocknen, die Steifigkeit des Winters aus ihren Gliedern zu treiben und ihre beinahe erfrorenen Seelen ein wenig aufzutauen. So verharren sie lange vor dem wärmenden Feuer. Sind versunken in Gedanken und leisen Gesprächen.
Es ist ohne Zweifel das Schicksal, welches Sie hier zusammen kommen ließ. Die Dämmerung in der kleinen Lichtung geht in Dunkelheit über und die Natur legt sich zur Ruhe. Der Schein des Feuers taucht die Lichtung in ein schummriges Licht.
Unvermittelt blitzen auf einmal rotglühende Augen aus den Erdlöchern, die es hier überall zuhauf gibt. Augen, die es nicht geben dürfte. Augen, die den Hexen aber nicht unbekannt sind. Erdbauten wölben sich empor, werden immer größer und bringen Gestalten hervor, von denen gerade die letzten Erdklumpen und verrottetes Wurzelgehölz zu Boden fallen. Sie kommen aus der Unterwelt, aus dem Inneren der Erde. Sind getrieben von dem Verlangen nach Vergeltung, getrieben von der Hetzjagd der Menschen, welche die Dämonen und Hexen in die Verdammnis schickten. Hexen- und Dämonenjäger.
Als die Dämonen auf die Hexengruppe am Feuer zugeht, angezogen von der Faszination der Flammen, verwundert davon, solch` ein Element an der Erdoberfläche wiederzufinden, bringt der Schein der Flammen das wahre Aussehen der Gestalten langsam zum Vorschein und zeigt das volle Ausmaß.
Es sind riesige Kreaturen mit zotteligem, dunklen Fell und monströsen Hörnern, welche aus der Stirn ragen. Mit ihren gefletschten Zähnen und den rot glühenden Augen würde ein normaler Mensch sich zu Tode ängstigen. Nicht so die Hexen. Sie sind zunächst ratlos und wissen nicht wie sie reagieren sollen. So vergehen Minuten und Stunden. Zeit spielt für diese Wesen keine Rolle. Keine der beiden Gruppen bewegt sich oder sagt etwas. Irgendwann lassen die Hexen sie an ihr Feuer treten, indem sie sie zu sich heranwinken. Die Dämonen sind immer noch fasziniert von den Flammen. Doch nach einiger Zeit fangen sie mit grollenden Stimmen an, den Hexen ihr Leid zu klagen. Die Unterhaltung gestaltet sich als schwierig. Die Hexen verstehen fast kein Wort. Nur einige Fetzen, die für sie aber wenig Sinn ergeben:
Menschen ... Religion ... Macht ... Angst ... Gott ... Satan ... Engel ... Luzifer ...

W
ährend die Hexen noch darüber sinnieren, was ihnen das sagen soll, hören sie ein leises Blubbern. Kurz darauf springen zwei Moorfrösche aus dem Teich, der sich durch den ewigen Regen neben der Lichtung gebildet hat. Einer davon ist hellblau, der andere braunviolett gefärbt.
Moorfrösche sind hervorragende Übersetzer. Sie beherrschen viele Sprachen und haben die Gedanken der Dämonen und Hexen gehört. Auch ihre stumpfsinnigen Versuche, eine vernünftige Unterhaltung zu führen, sind ihnen nicht entgangen.
„Wir wollen dazu beitragen, dass ihr einander versteht. Also werden wir euch zuhören und es den anderen dann jeweils mitteilen. Falls ihr einverstanden seid.“ Der Satz endete wieder mit einem hellen, feinen Blubbern.
Die Hexen und Dämonen erteilen ihr Einverständnis mit einem zustimmenden Nicken.
Ein Dämon beginnt wieder mit grollender Stimme zu sprechen und zeitgleich folgt die Übersetzung des Moorfrosches:
„Wir spielen schon lange keine Rolle mehr im Leben der Menschen. Sie haben sich jetzt etwas zu Eigen gemacht, was sie Religion nennen. Glaubten sie früher noch an UNS, so haben sie sich heute einer anderen, scheinbar viel größeren Macht zugewandt. Sie nennen diese Macht „GOTT“ und alle Menschen müssen sich genau so verhalten, wie es diesem Gott recht ist. Bischöfe und Päpste halten sich für berufen, den Menschen vorzuschreiben, was dieses Verhalten beinhalten soll. Damit machen sie sich alle Leute gefügig. Denn es gibt da noch eine andere große Macht, die jenen die Seele raubt, welche nicht an Gott glauben wollen, sagen sie. Sein Name ist Satan. Einige nennen ihn auch Luzifer. Halten die Menschen sich nicht absolut an Gottes Willen, sagt man ihnen nach, sie wären vom Teufel besessen und werden in aller Öffentlichkeit hingerichtet.“
Der Dämon schaut sich im Kreis um, weil er wissen möchte, ob auch jeder seinen Worten folgen kann. Alle schauen ihn gebannt an. Dann spricht er mit seiner tiefen grollenden Stimme weiter: „Frauen, die über ungewöhnliches Wissen verfügen oder sich den hohen Kirchenfürsten, wie sie sich nennen, widersetzen, werden als Hexen beschimpft. Dann werden sie grausam gequält und schließlich verbrannt.“

D
ie Hexen am Feuer murren und zetern. So einfach wird man keine Hexe. Aber sie geben nicht den Frauen die Schuld. Sie können die uralten Gebote der Dunkelheit und Finsternis seit Millionen von Jahren nicht kennen. Aber sie wollen mehr über diese merkwürdige Religion erfahren. „Sprich weiter“, fordern sie den Sprecher der Dämonen auf.
„Man sagt, dass Gott unmittelbar nach der Erschaffung des Menschen auch Engel erschuf, die eine Probe bestehen mussten, in der sie sich für oder gegen Gott entscheiden konnten. Der höchste Engel, der von Gott abgefallen war, hieß Lucifer, den sie heute den Teufel nennen und mit ihm fielen zugleich viele andere Teufelsengel, die alle für ewig verdammt sind.“
„Lügen, nichts als Lügen!“, fällt ihm eine Hexe mit lauter keifender Stimme ins Wort. Davon aufgeschreckt, fliegt ein großer Rabe laut krächzend von einem Baum durch die Luft und nähert sich der Gruppe.
Der größte von den Dämonen will ihn mit seinen Riesenklauen einfangen und verspeisen, aber eine der Hexen ist schneller. Sie erhebt sich blitzschnell und fliegt dazwischen. Wie, als wenn da eine unsichtbare Mauer wäre, prallt seine Klaue von ihr ab. Eine Sekunde später und der Vogel wäre in seinem Magen gelandet. Drohend sieht sie den Dämon an. „Wag es nicht noch einmal nach meinem Sohn zu greifen! Sonst lasse ich dich spüren, wozu ich fähig bin!“
Der Dämon hat seine eigenen Mittel, um diesen Bann, den sie um sich und den Raben gelegt hat, zu durchbrechen. Aber hier geht es jetzt um Größeres. So setzt er sich mit einem lauten Krachen, welches der Baumstamm verursacht, der in der Mitte zerbricht, als er sich auf ihm niederlassen will, auf uralte Wurzeln, die jetzt aus dem Untergrund hervorkommen. Sein mächtiger Kopf mit den großen Hörnern neigt sich den anderen Hexen zu und er spricht langsam weiter:
„Wir müssen etwas gegen diese Religion unternehmen. Die Menschenkinder, die der Willkür dieser machtbesessenen, elenden Kirchenfürsten ausgeliefert sind, können sich nicht wehren.“
Eine Hexe unterbricht ihn aufgebracht:
„Wir haben einst beschlossen, dass wir in die Geschichte und das Leben der Menschen nicht mehr eingreifen wollen. Denn es gibt so viele von uns, dass wir sie alle hätten vernichten können, um selbst hier zu herrschen. Auf der Erde und nicht tief in ihrem Inneren oder in den weiten Wäldern, Mooren und Meeren. Es hätte dann kein natürliches Leben mehr auf diesem Planeten gegeben. Und jetzt herrscht das Böse, ohne dass wir irgendeinen Einfluss darauf genommen hätten! Das können wir nicht zulassen. Wo soll das hinführen? Wir müssen sie entweder alle vernichten oder anders dafür sorgen, dass hier wieder Ordnung herrscht.“
„Ihr habt recht, Schwester“, mischt sich eine graue, fast durchsichtige Hexe jetzt ein. „Schickt jemanden zu ihrem höchsten Fürsten und bedeutet ihm, dass das Verbrennen von unschuldigen Frauen ein Ende haben muss. Das es keine wahren Hexen gibt, ausser uns. Und wir wollen den Menschen nichts Böses. Sie sollen ihre Welt haben und wir leben in unserer. Es soll Frieden sein und alle bösen Geister, seien sie von menschlicher Gestalt oder einer aus der Unterwelt, werden von uns vertrieben.“
„Wie wollen wir das anstellen?“, fragte einer der Dämonen.
„Wie wir es immer tun“, antwortet die Graue. Wir werden Angst und Schrecken verbreiten, bei Denen, die kein Einsehen haben wollen. Werden ihre größten Ängste herausfinden und sie damit quälen. Solange, bis sie einsehen, dass wir stärker sind. Wir werden selbst große Feuer entzünden und ihnen damit drohen, sie zu verbrennen, wenn sie mit ihrem Unsinn nicht aufhören.“
„Ja, das sollte sie lehren, ihre Spielchen nicht zu weit zu treiben! Und wir werden dabei ordentlich Krach und Radau machen. Seid gewiss, wenn wir damit fertig sind, hat der Frühling auch endlich den Winter vertrieben und alles ist wieder im Lot.“
Während sich eine Hexe und ein Dämon aufmachen, um ihr Ansinnen durchzusetzen, begeben sich die anderen in das Dorf, welches nicht weit entfernt liegt.

Dank ihrer Zauberkräfte können sie sich unter die Menschen mischen, ohne dass diese ihr scheussliches Aussehen bemerken. Sie fahren in herrlichen Kutschen vor und selbst ihre Rappen haben Hufeisen, die reich mit Gold verziert sind. In den Augen der Menschen sind sie Edelleute von hohem Rang und tragen prächtige Kleider. Und sie reden freundlich mit jedem, dem sie begegnen.
Sie verschenken hier und da ein paar Goldtaler, geben den Ärmsten der Armen, den Bettlern am meisten davon und in die kargen Hütten lassen sie Essen und guten Wein bringen. Kinder erhalten von ihnen Süßkram und Dinge zum Spielen. Oh ja, sie verstehen es, sich schnell beliebt zu machen.
Es dauert ein paar Tage und Nächte, aber dann haben sie das Volk ganz auf ihre Seite gezogen.
Dieses ist es nicht gewohnt, dermaßen verwöhnt zu werden und so versuchen sie alles, um ihrerseits den hohen Damen und Herren zu gefallen.
Derweil haben auch die Hexe und der Dämon, die zu den Kirchenfürsten unterwegs waren, ihr Werk vollbracht. Auch wenn der selbsternannte Papst und sein Gefolge sich erst schwer getan haben, sich dem Willen der Urgestalten zu beugen, blieb ihnen zum Schluss doch nichts anderes übrig, als nachzugeben. Es wird beschlossen, bald ein großes Fest zu feiern, bei dem alle bösen Geister vertrieben würden und bis dahin kein Blut vergossen und in der Zeit bis zu Fest kein Fleisch gegessen werden darf. Wenn sie dieses Ritual jedes Jahr wiederholten, hätten sie nichts zu befürchten. Außerdem dürften sie keinem Menschen mehr mit ihrem Gott drohen oder gar Urteile in dessen Namen vollstrecken...

Der Gong im Ulrich-Gymnasium erklang kam im gleichen Moment, als Gesa Jannssen mit dem Vorlesen ihres Aufsatzes zum Thema „Fastnacht“ fast fertig war. Ihre Klassenkameraden waren noch völlig im Bann ihrer Geschichte versunken, als Frau de Vries, ihre Lehrerin den obligatorischen Satz sagte, den Gesa immer zu hören bekam, wenn sie einen ihrer Aufsätze vorgelesen hatte. „Gesa, du solltest dich mit den Mystery-Elementen wirklich mehr zurückhalten. Woher kommen bei dir bloß immer diese wilden Phantasien?“ Dann wandte sie sich wieder der ganzen Klasse zu und rief: „Pause!“




© Tilli Ulenspeel

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Hintergrundinfos zu Fasnachtsbräuchen:

D
ie Römer feierten vom 17. Dezember bis 19. Dezember die Saturnalien zu Ehren ihres Gottes Saturnus. Das Fest war verbunden mit einem öffentlichen Gelage, zu dem jedermann eingeladen war. Hinrichtungen wurden wegen der Saturnalien verschoben. Sklaven und Herren tauschten zeitweise die Rollen, feierten und saßen gemeinsam myrtenbekränzt bei Tische, tranken und aßen, konnten jedes freie Wort wagen und überschütteten sich mit kleinen Rosen. Aus den Rosen entstand möglicherweise das in unseren Tagen bekannte Konfetti.
Bei Fasnachtsbräuchen in Tirol und Südtirol findet die Symbolisierung des Kampfes zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gut und Böse, zwischen Frühling und Winter immer noch statt. Beispielhaft dafür ist der Egetmannumzug in Tramin oder das Mullerlaufen in Thaur.














 



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