Sturm über der Hallig
Unruhig
blickte Anna-Maria nach draußen. Die See war aufgewühlt und wild.
Das schon graue Licht verlor an Kraft, die Dunkelheit brach an.
Die
heranrollenden Wellen waren groß und mächtig und einige schafften
es bereits über die Warft zu brechen. Dabei schoss die Gischt gegen
die Fenster und versperrte für kurze Momente den Blick auf das
tosende Meer. Der kleine Strand war nicht mehr zu sehen. Das
beunruhigte Anna-Maria, denn seit ihr Vater das Haus vor über
dreißig Jahren im Fertigbausatz errichtet hatte, war das Wasser nur
ein einziges Mal bis ans Haus vorgedrungen. Damals, als der blanke
Hans ihre Eltern im Watt überraschte. Sie hatten all ihre Tiere
verloren. Das Haus hatte die Sturmflut des Jahrhunderts überstanden.
Schwer angeschlagen und renovierungsbedürftig. Aber es stand.
Seitdem war sie nie wieder auf der Hallig gewesen. Bis heute...
Jetzt
ging die Deckenlampe im Wohnzimmer aus. Dann fing die gesamte
Beleuchtung in der Küche und im Flur an zu flackern, bis plötzlich
das Licht ganz erlosch. Unsicher tastete Anna-Maria sich durch die
Dunkelheit, stieß dabei an einen Stuhl und setzte sich auf ihm
nieder.
Abwartend.
Ängstlich.
Ab
und zu wurde es im Haus taghell - dann wenn nach einem gewaltigen
Donner ein Blitz über das wütende Meer schoss. Das gleißende Licht
ließ die alte Einrichtung kurz lebendig erscheinen.
Jedes
Mal zuckte Anna-Maria dabei erschrocken zusammen und erinnerte sich
daran, dass auch schon früher der Strom regelmäßig ausgefallen
war. Sie erhob sich wieder und tastete sich vorsichtig durchs Zimmer,
bis sie in der Küche beim alten Schrank angekommen war. Dort lagen
Kerzen und Streichhölzer in der Schublade, das wusste sie. Sie
entzündete eine dicke Kerze, stellte diese in eine Sturmlaterne, die
auf dem Schrank Mit dem flackernden Licht in der Hand ging sie
wieder zurück in das Wohnzimmer. Sie setzte sich in den alten
Ohrensessel, in dem früher immer ihr Vater gesessen hatte. Die
Laterne stellte Anna-Maria vor sich auf dem Tisch ab, zog ihr Handy
aus der Gürtelhalterung und wählte eine Nummer. Mist, immer
noch die Mailbox.
Sie
meldete sich schon nach dem zweiten Klingeln.
„Hallo
Britta.“
„Herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag, Anna-Maria .“
„Danke
danke, ich habe wenig Zeit. Sag mal, weisst du, wie das Wetter werden
soll?“
„Na,
wie bist du denn drauf, hat dir Gerd das falsche Geschenk gemacht?“
„Britta,
ich bin auf der Hallig, und von Gerd keine Spur.“
„Du
auf der Hallig? Da warst du doch seit…“
„Ja,
ich weiß. Gerd hat mich überredet. Er meinte, nur dieses eine Mal,
dann nie wieder.“
Kurzes
Schweigen auf beiden Seiten.
„Und
wo ist er jetzt?“
„Noch
auf dem Festland. Hat eine Riesenüberraschung für mich, sagte er.
Heiko Wilhelms, ein alter Freund meiner Eltern, hat mich übers Watt
begleitet. Das ist jetzt aber mittlerweile fünf Stunden her...!“
„Oh,
verdammt, im Radio warnen sie vor einer schweren Sturmflut, da kommst
du heute nicht mehr weg.“
„Die
Hallig bringt mir einfach kein Glück. Ich hätte sie damals
verkaufen sollen. Hier ist…“
Piep.
„...der Strom ausgefallen. Britta ?“
Piep.
„Hallo?....... Hallo ?! Ich brauche
Hilfe!!! Mist, der Scheiss-Akku“, fluchte Anna-Maria und warf
frustriert das Handy auf den Tisch.
Plötzlich
gab es einen fürchterlichen Knall, die Wohnzimmerscheibe splitterte
und noch bevor die Glassplitter den Boden erreichten, sprudelte eine
mannshohe Welle in den Raum. Für einen kurzen Augenblick war
Anna-Maria von der kalten, salzigen Flut umgeben, doch genauso
schnell wie es gekommen war, zog das Wasser sich laut rauschend und
gluckernd durch die weit offen stehende Türe wieder aus dem Wohnzimmer zurück.
Es nahm dabei einen
Teil der Möbel und einige Dekorationsgegenstände mit. Klatschnass
und vollkommen erstarrt von der Erkenntnis über die Macht des
Meeres, blickte Anna-Maria dem abfließenden Wasser hinterher. Der
Sturm blies kräftig ins Haus hinein. Ein frischer klarer Geruch,
vermischt mit Gestank von moddrigem Schlick machte sich breit.
Das
Meer war auf Diebeszug.
Anna-Maria
war nicht in der Lage sich zu rühren. Angststarre nannte man das
wohl. Sie hörte, wie donnernd eine weitere Welle heranrollte. Mit
lautem Gebrüll trieb der Orkan das Meer auf das kleine Reethaus zu.
Fertigbau – auf alt getrimmt. Ob es noch einmal einer so
gewaltigen Sturmflut wie damals standhielt ?
Anna-Maria
schloss die Augen und fing leise an zu beten...
„Anna,
bist du hier?“
Wie
hatte sie sich nach dieser Stimme gesehnt.
„Gerd?
Gerd bist du es? Oh mein Gott....!“
Gerd
stürzte ins Haus. Er trug einen schwarzen Neoprenanzug.
„Komm
Anna, wir haben keine Zeit mehr.“
„Wie
bist du hierhergekommen bei dem Sturm? Und wo wollen wir hin…?
Gerd, ich habe Angst.“
„Schscht.......
ganz in der Nähe ist eine Rettungsbake“, sprach er beruhigend auf
sie ein. „Hier nimm,“ damit hielt er ihr ein Seil entgegen.“
Binde dich an dem Seil fest, wir müssen schwimmen.“
Mit
zitternden Fingern tat sie, was er sagte. Keine Sekunde zu spät
hatte sie es geschafft..
Denn
dann passierte es. Eine haushohe Welle stemmte sich krachend mit
aller Gewalt gegen das Haus und spülte es auf das Meer hinaus!
Anna-Maria und Gerd, das Seil fest um
ihre Handgelenke geschlungen, wurden mitgerissen und durch den
Hauptwaschgang der Fluten gezogen. Als die riesengroße Welle endlich
über sie hinweg gerollt war, kamen sie nach Luft ringend wieder an
die Oberfläche. Sie schwammen am Seil entlang. Jeder für sich im
Kampf gegen die Natur. Nach gut zweihundert Metern erreichten sie,
fast am Ende ihrer Kräfte, unbeschadet die Bake. Es grenzte fast an
ein Wunder. Mit letzter Kraft kletterten sie die Leiter hinauf und
setzten sich auf die umfriedete Plattform. Sie froren. Aber
wenigstens hatten sie sich. Und ihr Leben...
Gerd
öffnete die kleine Kiste, die fest an der Rückseite der
Rettungsbake angeschraubt war und sah hinein. Sie enthielt, wie er
erwartet hatte, die üblichen Dinge. Decken, Proviant und
Trinkwasser, sowie Signalraketen, Signalfackeln und Rauchbojen.
Sie
zogen mit klammen Fingern ihre Sachen aus und wickelten sich in die
Decken. Meist wurden diese Kisten für 6 Personen bestückt, so dass
Anna-Maria 3 Decken allein für sich beanspruchte..
Dann
saßen sie so eng es eben ging, nebeneinander und horchten in die
Dunkelheit hinein. Das pfeifen, heulen, rauschen und dröhnen der
Naturgewalten klang wie eine unheimliche Melodie. Der blanke Hans
„reloadet“ war in Bestform. Schlafen war unmöglich. Erst weit
nach Mitternacht wurde es ruhiger.
Das
Wasser hatte sich zurückgezogen. Die Gezeiten mussten diesem
Naturgesetz gehorchen.
„Wie
bist du bei diesem Sturm auf die Hallig gekommen?“, stellte
Anna-Maria noch einmal die Frage an Gerd, auf die sie noch keine
Antwort bekommen hatte, weil die Ereignisse sich plötzlich
überschlugen.
„Heiko
Wilhelms meinte, ich wäre lebensmüde. Aber er hat mich trotzdem mit
dem Kutter bis zum Leuchtturm gefahren. Von da aus war es nur noch
ein Katzensprung. Ich bin den Rest geschwommen.“
Hätten
hier früher schon Rettungsbaken gestanden, wären meine Eltern nicht
ertrunken, dachte Anna-Maria.
Gerd
gab ihr einen sanften Kuss. „Jetzt noch einmal: Herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag.“
„Und?
Wo ist meine Überraschung?“
„Tja,
ich befürchte wir müssen deinen Geburtstag nachfeiern. Mein
Geschenk jedenfalls ist für immer futsch.“
„Wieso?“ Erstaunt
sah sie ihn an.
„Weil
du kein Haus mehr hast. Ich habe einen Käufer gefunden. 150.000 €
wollte er dir geben. Daraus wird ja jetzt leider nichts. “
Anna-Maria
erinnerte sich daran, dass sie Gerd irgendwann gebeten hatte, sich
umzuhören. Sie wollte das Haus verkaufen. Zuviel Schmerz und Wehmut.
Dort konnte sie niemals leben.
“Ich
denke, dass ist gut so, Gerd. Das Haus ist nun wieder mit meinen
Eltern verbunden und für immer in meinem Herzen. Das Meer gibt und
nimmt. Meine schönsten Kindheitserinnerungen stammen von hier. Für
mich ist alles im Einklang.“
Dann
schwiegen beide. Es gab nichts mehr zu sagen.
Irgendwann
schliefen sie von Müdigkeit überwältigt ein.
Als
sie aufwachten, ging gerade blutrot die Sonne auf. Ein wundervolles
Naturschauspiel. Ganz anders, als in der Nacht. Das Meer sah
mittlerweile aus wie glatt gebügelt.
Ein
Fischkutter kam gemächlich auf die Bake zugefahren. Eine Schar Möwen
begleitete schreiend das kleine Schiff.
Die
Nordsee zeigte sich zahm...
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