Eine weis(s)e Entscheidung
Eine weis(s)e Entscheidung
Ich
hatte das unbestimmte Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein.
Als
wäre es ein Déjà-Vu. Da war es wieder, dieses Gefühl der
Machtlosigkeit. Mein Körper fühlte sich ungewöhnlich schwer an,
die kleinste Bewegung war mühsam. Ich konnte kaum den Kopf drehen.
Der Raum war klein, alle Wände und die Decke weiß, die
Gleichförmigkeit des Zimmers engte ein. Ich versuchte, mich
aufzurichten, doch etwas hielt mich zurück, drückte gegen meinen
Bauch, schlang sich wie ein Band um Arme und Beine.
Dann
verstand ich: ich lag immer noch hier, wie schon die ganzen Tage
zuvor, mit Gurten auf eine Pritsche gebunden. Einen Moment lang
bäumte ich mich auf und kämpfte, stemmte mich mit aller Kraft gegen
die Gurte, doch ich fiel schnell entkräftet zurück. Es war
vergeblich. Und wieder die Frage nach dem Warum.
Warum?
Wieder
blickte ich zur Decke hinauf, als stünde dort eine Erklärung, als
gäbe es dort in diesem trostlosen Weiß einen Kontrast, eine
klitzekleine Unregelmäßigkeit, welche der Eintönigkeit einen Riss
gegeben hätte.
Doch
nichts. Kein Riss, kein Fleck, nur eintöniges, weißes Weiß.
Bewegungslos
- beinahe tot - lag ich da, die Gedanken so leer wie der Raum.
Zeit
war durch Endlosigkeit ersetzt, die Welt auf vier weiße Wände
reduziert.Wie lange ich so gelegen hatte, weiss ich nicht.
Plötzlich
drang ein schwarzer Punkt in das unendliche Weiß, wechselte die
Richtung, stand still, rückte wieder ein Stück vor. Fasziniert
folgte ich ihm mit Blicken, sah zu, wie er näher kam, wie er langsam
größer wurde, erkannte einen Körper und Beine, die ihn
fortbewegten… eine kleine schwarze Spinne, deren große Freiheit
ich sofort beneidete.
Früher
hätte ich es mit einer Spinne nicht eine Minute im gleichen Zimmer
ausgehalten. Ich hätte sie kurzerhand erschlagen oder meinen
Staubsauger hervorgeholt und ohne Bedauern eingesaugt. Nun war ich
froh, ein bisschen Gesellschaft zu haben. Ich habe der kleinen
schwarzen Spinne sofort einen Namen gegeben: Spinella. Was einen
Namen hat, isst man nicht. Das hatte ich auch ganz gewiss nicht vor.
Igitt. Aber in Anbetracht der Umstände und der Tatsache, dass ich
hier vielleicht noch längere Zeit liegen würde, fand ich es
wichtig, mir Freunde zu machen. Momentan noch Singular, aber das
konnte sich ja noch ändern. Bestimmt gab es noch mehr von ihrer
Sippe.
„Spinella,
du hast es gut. Komm runter und sprich mit mir!“
Konnte
es wirklich sein, dass ich gerade versuchte, mit einer Spinne zu
kommunizieren?
Egal.
Versuch macht klug...
Ein
seidener Faden. Ein schwarzer Körper, der von diesem Faden abseilte
und sich neben meinem Ohr auf dem Kissen niederliess.
„Was
gibt’s?“ Nur ein Wispern. Aber klar und deutlich zu verstehen.
„Ich
muss mit jemandem reden! Bitte hör mir zu. Wir roden die Wälder ab,
wir verpesten die Luft, wir verschmutzen die Ozeane, wir rotten
Tierarten aus, wir wissen nicht, wohin mit unseren radioaktiven
Abfällen und reisen ins All, um eine zweite Erde zu finden, auf die
wir im Notfall ausweichen können, wenn wir hier alles kaputt gemacht
haben. Wir erleben gerade das Sterben unseres einzigen Planeten, auf
dem wir überleben müssen, bis es eine zweite Erde gibt. Das macht
mir Kopfzerbrechen!"
Stille.
Aber
dann...
"Ja,
ihr seid stolz darauf, wie weit ihr es gebracht habt, und dabei habt
ihr euren und unseren kostbaren Lebensraum schon fulminant und
nachhaltig zerstört“, hörte ich Spinella flüstern.
"Spinella,
ja ich weiss, was du meinst. Und es wird noch schlimmer werden. Jetzt
schon haben wir unverhältnismäßig viele Stürme, Regen,
Hitzewellen und Vulkanausbrüche. Ich will die Welt retten. Will dazu
beitragen, dass dieser Wahnsinn ein Ende hat. Zur Not auch ganz
allein!"
Ich
fühlte, wie ich mich immer mehr in meine Gedanken hineinsteigerte
und auch, dass ich wohl bei Spinella den Eindruck einer
Größenwahnsinnigen erweckte.
"Du
spinnst", kam auch gleich ihre prompte Antwort.
Ich
dachte gerade daran, dass das ja wohl eher ihr Part sei und wollte
etwas entsprechendes
erwidern,
als mich ein eindringliches Klopfen unterbrach. Im nächsten Moment
schloß jemand die Türe auf, ein Mann trat ein und riss mir die
Bettdecke vom Körper.
"Aufstehen!
Sie haben heute einen Einschreibungstermin bei der Uni! Ihre Eltern
warten darauf, dass Sie Ihrem Vorschlag Jura zu studieren, endlich
folgen!“
Aus
den Augenwinkeln sah ich Spinella sich auf ihrem Faden entfernen.
Wieder hinauf zur Decke.
"Nein.
Ich möchte Arachnologie und Ökologie studieren!"
"Sie
wollen was? Na, hören Sie doch auf zu spinnen. Was wollen Sie denn
damit? Mit dieser Einstellung bleiben sie noch ewig in dieser Zelle.
Ihre Eltern werden ihren Sinneswandel in dieser Richtung nicht
tolerieren. Es wäre besser, Sie würden kooperieren! Meinen Sie
vielleicht, mit dieser Haltung etwas in der Welt zu erreichen?“
Der
Mann hielt einen Moment inne, folgte meinem Blick an die Decke und
fluchte. Dann fing er an, mit der Bettdecke nach Spinella zu
schlagen.
"Lassen
Sie das! Hauen Sie ab und lassen Sie sie in Ruhe! Spinnen haben mehr
drauf, als ihr alle zusammen! Und ich werde das studieren, was ich
will, ob meinen Eltern das nun passt
oder
nicht!"
Achselzuckend
wandte er sich um und verließ mich genauso schnell, wie er gekommen
war.
Ich
war wieder allein in meiner weißen Welt. Hatte es einen Grund, warum
ich ausgerechnet hier in dieser weißen Zelle über mich nachdenken
und zu einer Entscheidung kommen sollte? Ich philosophierte wieder
vor mich hin. Zeit hatte ich ja genug.
Die
Existenz der Dinge und des Menschen, auch die Normen des
Zusammenlebens müssen selbstverständlich begründet werden. Aber
es gibt auch jede Menge Mythen.
Mythen
sind Erzählungen über deren Entstehen in einer Urzeit, erinnerte
ich mich an mein letztes Klausurthema zurück. Von Mythen spricht man
nicht beiläufig. Sie gelten als heilig. Und dazu spielen Farben eine
große Rolle. In allen Kulturen. Was war mit „weiß? Hmm... weiß
ist eine ziemlich „unbunte“ Farbe.
Wobei
in Afrika diese „unbunte“ Farbe eine besonders herausragende
Symbolik hat. Sie steht vielerorts für Tod und als Körperbemalung
dient sie dazu, mit jenseitigen Geistern in Kontakt zu treten. Ich
hatte in einigen Geschichten gelesen, dass Termiten, die weißen
Ameisen, als Inkarnation der Toten gelten. Ausgerechnet Ameisen! So
kleine Tiere...
Mein
Blick suchte Spinella. Ja, da saß sie noch und schaute wohl genauso
auf mich herab, wie ich auf sie hinauf.
Eine
weiße Flagge bedeutet bedeutet: sofortiger Stopp der Schlacht,
Kapitulation, Waffenstillstand oder Frieden.
Nein,
kapitulieren wollte ich auf gar keinen Fall. Ich hatte wirklich genug
Zeit zum Nachdenken gehabt und wusste genau, dass ich beruflich etwas
machen wollte, was den Menschen, Tieren und Pflanzen – ja, er
ganzen Welt helfen konnte.
Um
den Schein zu wahren, würde ich, wenn mein „Zellenwärter“
wieder zu mir herein kam, allem zustimmen, was man von mir verlangte.
Aber
die Einschreibung würde nicht ihren Wünschen entsprechen.
Vielleicht würden Sie ja doch irgendwie einsehen, dass ich mich von
meinem Ziel nicht abringen lasse.
Vielleicht
würde es neue Kämpfe geben und ich wieder in dieser Zelle landen.
Vielleicht...
Doch
auf keinen Fall würde ICH die weiße Fahne schwenken! Ich zwinkerte
Spinella zu und schloß meine Lider.
Ein
Ritter auf seinem weißen Pferd tauchte vor meinen Augen auf...
Magst du verraten, warum sie dort gefesselt liegt? Haben die Eltern sie einsperren lassen, weil sie studieren will? Oder habe ich das falsch verstanden?
AntwortenLöschenDas bleibt alles deiner Phantasie überlassen :-)
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